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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0058
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Heimweh und Verbrechen

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Serum entstehen weniger Lebensgeister als früher, und die wenigen werden wegen der
dauernden Ekstase des Geistes im Hirn aufgezehrt. Daher versiegen die Willens- und
Reflexbewegungen, die Blutzirkulation wird verlangsamt, das dickere Blut verursacht
den trägeren Herzschlag, dehnt die Gefäße und ruft die Angst hervor. So tritt schließ-
lich der Tod ein. Mit den Worten: »das kann alles durch die Einbildungskraft allein
geschehen«30, schließt Hofer diesen Absatz.
Die Prognose richtet sich danach, ob man die Kranken in die Heimat zurückbrin-
gen kann oder nicht. Die Therapie bezieht sich auf die Besserung der gestörten Einbil-
dungskraft und auf Milderung der Symptome. In bezug auf | erstere, wenn sie noch 5
keine festen Wurzeln gefaßt hat, empfiehlt er ein Purgans,31 wodurch der Ballast der
rohen Stoffe aus den Verdauungswegen entfernt werde. Zur Milderung der Symptome
rühmt er verschiedene Mixturen.
Im Anschluß an diese Arbeit von Hofer erschienen im Laufe der Zeit mehrere Dis-
sertationen, die, soweit das aus Referaten zu schließen ist, nichts wesentlich Neues ent-
halten (Verhovitz 1703,32 Tackius 170733). Zwinger (1710) gab die Arbeit Hofers in
erweiterter Form heraus und ergänzte sie durch einige kurz erzählte Fälle.34 Er betont,
daß die Ursache des Heimwehs eine rein psychische sei und oft durch Zufälle, wie das
Anhören des Kuhreihens, hervorgerufen werde. Seitdem spielt der Kuhreihen in der
Heimwehliteratur eine große Rolle'.35
Eigenartig ist der Aufsatz »Von dem Heimweh«, den der durch seinen vermeintli-
chen homo diluvii testis berühmte Scheuchzer in seiner Naturgeschichte des Schwei-
zerlandes geschrieben hat.36 Die eigentliche Ursache des Heimwehs ist nach ihm die
Änderung des Luftdrucks. Die Schweizer leben in den Bergen in feiner leichter Luft.
Ihre Speisen und Getränke bringen auch in den Körper diese feine Luft hinein. Kom-
men sie nun in das Flachland, so werden die feinen Hautfäserchen zusammenge-
drückt, das Blut wird gegen Herz und Hirn getrieben, sein Umlauf verlangsamt und,
wenn die Widerstandskraft des Menschen den Schaden nicht überwindet, Angst und
Heimweh hervorgerufen. Daß besonders junge Leute mit feiner Haut und solche, die
mit Milch genährt sind, erkranken, dient ihm als Stütze seiner Ansicht. Zur Behand-
lung empfiehlt er auf Grund seiner Meinung neben psychischer Beeinflussung Trans-
port auf höher gelegene Berge und innerliche Darreichung von Stoffen, die »zusam-
mengepreßte Luft enthalten«, um von innen den Druck im Körper zu erhöhen,
z.B. Salpeter,37 Pulver, jungen Wein. Anhangsweise spricht er vom Heimweh der Wal-
fische, die in südlichen Gewässern ebenfalls infolge Druckänderungen an diesem Übel
erkranken.

Auch im Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller wird er besprochen in Beziehung auf die Stelle
im Teil, wo Attinghausen Rudens warnt, wie er sich dereinst »mit heißen Thränen« »nach dieses
Herdenreihens Melodein« sehnen werde. (Kluge)
 
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