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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0063
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Heimweh und Verbrechen

ten, daß sie den ernstlichen Versuch machen, ein eingehenderes psychologisches Ver-
ständnis des Heimwehzustandes zu gewinnen.
Schlegels Schrift ist überfüllt mit Dichterstellen, er beschäftigt sich eingehend mit
dem Heimweh verschiedener Völker'84 und der Soldaten“.85 Er behandelt auch die foren-
sischen Fragen. Das Neue, was er bietet, ist ein Versuch psychologischer Auffassung.
Nach einigen Bemerkungen, daß der Arzt sich nie über die gemeine Linie erheben
werde, wenn er nicht unablässig Psychologie in enger Verbindung mit Physiologie als
Grundwissenschaft seines Studiums erforsche, betont er, daß die Ursache der Heim-
wehkrankheit allein in jenem Empfindungszustand der Seele, den wir Sehnsucht nen-
nen, bestehe, dagegen weder in Entbehrung der gewohnten Bergluft, noch in einer
instinktartigen Vorliebe für das Geburtsland gefunden werden könne. Die Wirkung auf
den Körper sei die unbefriedigter Sehnsucht überhaupt. Doch nicht alle Menschen
haben die Anlage, in den Zustand der Sehnsucht zu geraten. »Wie ist nun der Ursprung
der Heimatsliebe zu erklären, da sie kein eigentlicher Naturtrieb, auch keine bloße
Frucht der Gewohnheit, noch weniger eine Folge von Überlegung ist? Die Heimatsliebe
hat ihre ersten Keime in den ersten Empfindungen und Vorstellungen des jugendlichen
Alters. So wie da auf das zarte Gemüt, auf das reizbare Gefühl, auf die lebhaftere Einbil-
io dungskraft alle Umgebungen | einen tieferen Eindruck, einen unverlöschlicheren
machen als in späteren Jahren, so hinwieder lebt der junge Mensch sich gleichsam tie-
fer und inniger in alle seine Umgebungen hinein. Er belebt alles, auch das Leblose mit
seinen Vorstellungen. Er macht spielend Freundschaften wie mit Kinderpuppen so mit
Gesträuchen, Wohnungen, Bergen und Winkeln. Jeder Tageszeit, jeder Jahreszeit, jeder
häuslichen und außerhäuslichen Beschäftigung lauscht er ihre innerste Natur, ihren
feinsten Reiz ab, der erwachsenen Personen kaum empfindbar ist. Gleichsam wie eine
geistige Pflanze schlägt er mit seinem Gemüte Wurzeln und Ranken in und um alle
Dinge seiner Jugendwelt. Er wächst gewissermaßen mit dem was ihn umgibt zusam-
men und wird eins mit demselben. Weil sich sein ganzes Wesen allem auf das zarteste
anschmiegt, wird hier auch alles seinem Wesen vollkommen zusagend. Je älter aber der
Mensch wird, desto mehr wird er auf sich selbst zurückgedrängt, er hat andere Bekannt-
schaften und Freundschaften als die mit toten unbelebten Wesen, Zeiten und Umstän-
den. Er kann sich nicht mehr Spielen und Träumen hingeben, er gehört den Sorgen,

i Bougainville berichtet von einem Otaheiter, der im botanischen Garten zu Paris beim Anblick
des Brotfruchtbaums in Entzücken geriet und keine Ruhe hatte, bis er die Rückkehr erreichte. Die
Nostalgie der Völker Sibiriens wird nach Delaportes’ Reisen eines Franzosen berichtet. Nach
Frorieps Notizen vom Jahre 1832 werden die Leute des Orahvolks auf Madagaskar melancholisch,
wenn sie eine Zeitlang von Hause fort sind. Viele nehmen bei einer Reise etwas Erde des heimat-
lichen Bodens mit und flehen die Gottheit an, daß es ihnen vergönnt sein werde, selbige wieder
an ihren Ort zurückzubringen. Die Indianer Südamerikas gedeihen in den Wäldern bei Hunger
und Strapazen, in den Missionen bei regelmäßiger Nahrung sterben sie dahin.
" 1745/46 erkrankte in Philippeville ein ganzes Bataillon Niederbretagner epidemisch an Nostalgie.
Die Leute starben massenhaft, der Rest mußte in die Heimat zurückgeschickt werden.
 
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