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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0066
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Heimweh und Verbrechen

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angestrengte Tätigkeit die Nervenkraft an sich zieht, desto mehr wird letztere antago-
nistisch den größeren Nervengeflechten des Unterleibs entzogen, somit auch das
ganze Geschäft der Reproduktion in Unordnung gebracht.«91
Andere Ansichten von der Entstehung der Nostalgie (Hofer, Scheuchzer, Larrey)
weist er zurück.
Des weiteren zählt Zangerl eine Reihe erregender Ursachen auf, denn das Heim-
weh schlummert nicht selten wie das Feuer unter der Asche und es ist unglaublich,
welch eine geringe Veranlassung oft zureicht, es in helle Flammen ausbrechen zu las-
sen. Solch erregende Momente seien plötzliche Eindrücke, die die Erinnerung an die
Heimat wecken, ein Brief, der Anblick von Landsleuten, der Nationaltracht, der vater-
ländischen Tiere. »Doch von allen erregenden Ursachen wirkt keine mit einem sol-
chen magischen Zauber als die vaterländische Musik.«92 Bei den Schweizern ist es der
Kuhreihen, bei den Tirolern das Jodeln und die Kuhglocken, bei den Steyrern der
Wechselgesang über die Berge, bei den Schotten die Sackpfeife.
Die Tatsache, daß die nördlichen und die Gebirgsvölker am meisten von Heimweh
ergriffen würden, gibt wieder den Anlaß zu einer psychologischen Erörterung. »Die psy-
chische Ursache liegt in der ungleichen Ausbildung der Seelentätigkeiten dieser Völker.
Jeder Mensch fühlt das Bedürfnis einer psychischen Tätigkeit. Seine Seele fordert Nah-
rung. Wird sein Verstand ausgebildet, so fehlt es seiner Seele nie an neuen Stoffen zur
genußvollsten Tätigkeit. Ebenso steht seiner Einbildungskraft, wenn sie geübt und in
gehöriger Richtung befriedigt wird, ein unermeßliches Feld zu immer neuen Reizen
und Genüssen zu Gebote. Nun sehen wir aber, daß der Verstand der Bewohner der nörd-
lichsten Gegenden und hoher Gebirge im allgemeinen nicht in jener Richtung ausge-
bildet ist, um in höherer Geistesbeschäftigung Reiz zu finden. Dagegen sind ihm von
frühester Jugend an Gefühle der Hauptgenuß des Lebens. Abgesondert wie er lebt, hef-
tet sich sein Herz nur an seine Familie, seine Herden, Wiesen und Alpen, diese einzigen
Gegenstände seiner Liebe, seiner Aufmerksamkeit und Vertraulichkeit. Diese bilden den
ausschließlichen Kreis seiner Vorstellungen, Empfindungen und Wünsche. Diese präg-
ten sich unauslöschlich seiner beschränkten Phantasie ein und bildeten die Summe des
unentbehrlichsten Lebensgenusses.
Wird ein Mensch dieser Art aus dem kleinen Kreise seiner Familie, aus dem Schoße
seines einsamen und einfachen Lebens herausgerissen, so ist er nicht imstande, sich
in die neuen Verhältnisse zu fügen, die fremden Gegenstände | aufzufassen und zu ver-
arbeiten. Andererseits entbehrt er alles, was seinem Herzen und seiner Phantasie teuer
ist, alles was ihm die Hauptquelle des Genusses war, und findet für den ungeheuren
Verlust nirgends Ersatz. So mangelt seiner Seele Stoff zur Tätigkeit. Was den Verstand
und die Einbildungskraft erregen und in Übung setzen könnte, dafür fehlt die Emp-
fänglichkeit, und was für das Herz Nahrung wäre, dazu fehlt der Stoff. Die Folge dieses
Zustandes ist eine fürchterliche Leere, eine unüberwindliche Langeweile, der bald die
Sehnsucht nach der Heimat folgt. Alle anderen Vorstellungen und Empfindungen ver-

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