Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0067
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
24

Heimweh und Verbrechen

löschen und die ganze Seelenkraft ist in dem einzigen Gefühle der Heimsehnsucht
zusammengedrängt.«93
Ähnliche Ansichten hat schon Alibert (Physiologie des passions, tome II. Brüssel
1825 p. 223, zit. nach Jessen),94 von dem Zangerl anscheinend unabhängig ist, geäu-
ßert: Die Liebe zur Heimat zeigt sich mit der größten Energie bei den ganz unzivilisier-
ten Völkern. Die Lebensweise des Wilden ist durchaus geeignet, seine ersten Beziehun-
gen zu verstärken, welche eine süße Gewohnheit ihm teurer macht als sein Leben. Der
Instinkt, welcher ihn stets zur Natur zurückführt, läßt ihn in der Welt nichts erblicken
als die Gegenden, wo er seine Beute erhascht, den Bach, welcher seinen Durst gestillt,
das Moos, worauf er ausgeruht, die Hütte, worin er geschlafen hat. Der wiederholte
Eindruck dieser Gegenstände, um so stärker je weniger sie abwechseln, identifiziert
ihn mit denselben und bildet unmerklich die unzerstörbaren und rührenden Bande,
welche die einfachen Völker an ihr Geburtsland fesseln.
Es folgt nun bei Zangerl eine eingehende Betrachtung des Heimwehs bei verschie-
denen Völkern, dann einige Bemerkungen über Dauer und Ausgang der Krankheit. Sie
kann in Heilung übergehen, in andere Krankheiten (Melancholia attonita,95 Tuberku-
lose, Krebs, Abortus,96 Nervenfieber) oder in den Tod, sei es durch die Krankheit selbst
oder durch Selbstmord. Schließlich kann sie auch die Ursache von Verbrechen werden.
Der Leichenbefund gibt wenig Aufschluß, die erhobenen Befunde (Larrey,
Auenbrugger, Ebel,97 Devaux)98 rühren von Komplikationen her.
Die dritte größere Arbeit hat P. Jessen zum Autor. Er faßt die Angaben früherer
Schriftsteller noch einmal mit einer gewissen Kritik zusammen. Er wiederholt die
Erzählungen merkwürdiger Heimwehhandlungen von Negern, von dem Otaheiter
usw., insbesondere gibt er eine sehr eingehende Zusammenstellung der Symptome des
Heimwehs, auf die man sich in forensischen Fällen wohl berufen hat.
Das Verlangen nach der Heimat oder, weil auch bei Veränderungen des Wohnortes
vorkommend, nach den früheren Verhältnissen erzeugt Unzufriedenheit mit der Gegen-
wart. Der Mensch wird mutlos, niedergeschlagen, teilnahmslos und gleichgültig. Die
Unlust zur Arbeit steigert sich bald zur Unfähigkeit. Das Nervensystem wird krankhaft
empfindlich. Der verdrießliche Kranke verabscheut die fremden Sitten, erträgt Scherze,
Neckereien und das geringste Ungemach nur mit dem größten Unwillen.
Während die wahre Ursache der Verstimmung aus Scham verheimlicht wird,
schützt der Patient andere Übel vor. Still, in sich gekehrt, einsilbig, wortkarg, verdros-
14 sen wie er ist, sucht er gern die Einsamkeit und überläßt | sich auf Spaziergängen in
Feld und Wald seinen sehnsüchtigen Gefühlen und den Träumen seiner Phantasie.
In Blick, Miene und Körperhaltung liegt der Ausdruck des Mißmutes, der Schwer-
mut. Die Gesichtsfarbe wird blaß, das Auge matt, häufig tränend, es wird nur mühsam
geöffnet gehalten. Das Atmen wird schwer, unterbrochen, von häufigem Seufzen beglei-
tet, der Puls ist unregelmäßig. Bei leichtester Anstrengung, geringster Gemütsbewegung
klopft das Herz. Der Appetit schwindet, Verdauung und Ernährung, Sekretion und
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften