Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0068
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Heimweh und Verbrechen

25

Exkretion werden gestört. Unter Kongestionen zu Kopf und Brust tritt Blässe, Kälte,
Abspannung, Abmagerung, Entkräftung auf. Von den Organen wird besonders der
Magen beteiligt. Auch der Geschlechtstrieb soll schwinden.
Die Schlaflosigkeit wird von leichtem Schlummer mit Träumen von der Heimat
unterbrochen. Nachtwandeln, bei dem der Kranke sich in die Heimat versetzt fühlt,
soll vorkommen. Im weiteren Verlauf stellen sich Delirien, Halluzinationen, Abstump-
fung der Sinne, allgemeine Unempfindlichkeit ein. Hektisches Fieber kommt hinzu.
»Der Tod erfolgt an gänzlicher Erschöpfung, Marasmus" oder Tabes nervosa.«100
Der tödliche Ausgang soll bei ausgebildeter Nostalgie die Regel sein. Auch plötzli-
cher Tod, wie asphyktisch, sei beobachtet (bei Soldaten, die am selben Tage starben,
als ihnen der Abschied verweigert wurde).
Unwiderstehliche und blinde Triebe treten bei Nostalgischen auf, um sich aus der
traurigen Lage zu befreien. Sie begehen Selbstmord, stürzen sich aus dem Fenster, set-
zen sich den größten Beschwerden und Gefahren aus, schreiten zu Gewalttätigkeiten,
Brandstiftung und anderen Verbrechen.
Im Anschluß an Alibert und Zangerl findet Jessen eine Hauptursache des Heim-
wehs in der Enge des Horizontes. Wer zu geistig freiem selbsttätigem Leben erwacht ist,
vermag überall auf der Welt seine eigene Existenz mit der Umgebung in Einklang zu set-
zen. Wer zu solcher Selbsttätigkeit nicht gelangt ist, bleibt gleichsam mit der ihn umge-
benden Außenwelt verwachsen, alle Gefühle und Gedanken sind in ihr festgewurzelt und
nur auf die nächste Umgebung, Wohnung, Garten, Gewerbe, Familie gerichtet. Entfer-
nung aus der Heimat ist dann nicht mit einem Verlust von äußerlichen Dingen verbun-
den, sondern mit einem Losreißen von allem, worin der Mensch bisher gelebt hat, und
mit seiner Heimat verliert er gleichsam die Hälfte seines Ich. Aus diesem Grunde werden
Kinder und junge Leute am schmerzlichsten durch die Entfernung aus der Heimat
berührt und besonders solche, deren Erziehung und Unterricht vernachlässigt wurde.
Der Ausbruch der Nostalgie erfolgt um so leichter, je größer der Kontrast der neuen
Verhältnisse gegen die alten ist, je mehr die Entfernung aus der Heimat eine gezwun-
gene und je weniger Hoffnung auf Rückkehr vorhanden ist. Sie wird befördert durch
Ungemach aller Art, Strapazen, Mißgeschick, ganz besonders aber durch körperliche
Krankheit.
In bezug auf das Wesen der Nostalgie kritisiert Jessen die Ansichten von Hofer,
Friedreich, Larrey, Broussais (der 1828 die Affektion des Gehirns in der Nostalgie
für die Folge primärer gastrischer Entzündungen erklärte)101 und Amelung. Er selbst
findet besonders auffallend, daß die Nostalgie so schnell und sicher töte, während die
Melancholie das Leben selten | gefährde, daß bei der Nostalgie im Gegensatz zur
Melancholie alle Organe gestört und ihre Lebenskräfte erschöpft werden und schließ-
lich, daß die Nostalgie durch Beseitigung der Krankheitsursache so schnell und sicher
geheilt werden könne, während die Melancholie sich lange hinziehe. Hieraus schließt
er, daß bei der Nostalgie vorwiegend Medulla oblongata102 und Rückenmark als Träger

15
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften