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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0070
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Heimweh und Verbrechen

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kam in wenigen Tagen sehr herunter, fühlte sich zu schwach zum Erheben, stand aber nachts
auf und phantasierte. Bei der Untersuchung starrer Blick, verfallenes Aussehen, schmerzlicher
Gesichtsausdruck. Unaussprechliche Schwere in Kopf und Gliedern ohne Schmerzen. Druck
am Herzen, daß der Atem benommen werde. Obstipation. Bei der Exploration wird sie lebhaf-
ter und munterer. Im Laufe von 10 Tagen gelang es durch freundliche Aufmunterung der Umge-
bung, sie aus dem Erstarren immer mehr herauszubringen. Zuweilen noch Angst, leichtes Wei-
nen. Sie wird die Nostalgie wohl gänzlich überwinden, meint Meyer, so daß man ihre Krankheit
als Akklimatisationskrise auffassen dürfte.110
Nach der Schilderung scheint es am wahrscheinlichsten, daß es sich bei dem Mäd-
chen um eine vielleicht durch Heimweh beförderte cyclothyme111 Depression gehan-
delt hat.
Der zweite Fall betrifft ein Mädchen, das in der zwei Monate dauernden Depression die Ange-
hörigen sah, glaubte, vergiftet zu werden und beleidigende Stimmen hörte. Von einer typischen
Heimwehpsychose liegt nichts vor. Die übrigen Patienten sollen an Nostalgie mit Verfolgungs-
wahn, mit ekstatischer Manie und Halluzinationen gelitten haben, ohne daß Heilung beobach-
tet wurde.112
Schon Damerows Kritik betont, daß die Fälle sämtlich zweifelhaft seien. Es ist mög-
lich, daß der ausführlicher referierte Fall jenen seltenen Vorkommnissen nahesteht,
wo junge Mädchen, die zum ersten Male von Hause kommen, zunächst Heimweh
haben, aus dem sich dann eine Psychose entwickelt, die auch bei Rückkehr nach Hause
nicht heilt, sondern einen selbständigen Ablauf vom Typus einer cyclothymen Depres-
sion nimmt. Doch ist die Zugehörigkeit solcher Fälle zum manisch-depressiven Irre-
sein in engerem Sinne zweifelhaft, sie könnten vielleicht in das Übergangsgebiet zwi-
schen dieser Krankheit und den degenerativen Reaktionen fallen.
Neben seinen Krankengeschichten gibt Meyer eine kleine launige Abhandlung
über die Nostalgie. Der schwärmerischen Vorstellung vom Heimweh der Schweizer
werde die Poesie abgestreift durch die Erfahrung, daß die armseligsten Bewohner ein-
samer Nordseeinseln, ferner Eskimos ebenso an diesem Übel laborieren, das von gewis-
sen Zuständen der Gesellschaft abhängig sei und mit der Ausbreitung und Entwick-
lung der Kultur immer mehr verschwinde.
In den Kliniken, wo man scharf ausgesprochene Symptome und klare Fälle liebe,
werde die Nostalgie selten beobachtet. Aber für diese Vernachlässigung des zarten
Gastes, zu dessen Ergreifen mehr phantasiereiches Umfassen des Ganzen als scharfes
Beobachten und Klassifizieren des Einzelnen gehöre, rächt er sich wie ein neckischer
Geist nicht selten an dem erfahrenen Praktiker, verwirrt ihm die Pulslehre, entschlüpft
unter verschiedenen Verwandlungen. Eine solche Spukgeschichte hat Meyer unter
seinem Lehrer Marcus113 in der medizinischen Klinik in Würzburg erlebt.
Dieser stellte einen 16jährigen ziemlich kräftigen Burschen vor, der aus einem Schwarzwäl-
der Dorfe gebürtig, seit 4 Wochen in Würzburg war, um sein Handwerk zu lernen. Er war so
 
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