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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0071
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Heimweh und Verbrechen

bedenklich erkrankt, daß man ihn wegen Nervenfieber in die Klinik brachte. Mehrere Tage vor
der Aufnahme hatte er nichts gegessen, war abgeschlagen in den Gliedern, mußte sich legen,
klagte über Kopfschmerzen. Jetzt schien der Kranke sehr schwach, lag ohne sich zu rühren auf
dem Rücken, Augen und Mund geöffnet, antwortete nur auf wiederholte Fragen und sehr
unvollständig. Er forderte weder Speise noch Trank und aß nur, wenn ihm der Löffel an die Lip-
pen gesetzt wurde. Die objektiven Symptome waren weniger beunruhigend, der Kopf nicht
17 übermäßig heiß, ein kleiner weicher Puls von normaler Frequenz. Nach verschiedenen Debat-
ten einigte man sich, die Erscheinungen als gelinde Vorläufer eines Typhus zu betrachten. Einige
schlugen schon Coupiermethoden114 vor, als plötzlich Marcus dem Kranken lächelnd auf die
Wange klopfte und ihn kräftig anredete: »Bürschle, wenn du tüchtig essen und einen Schop-
pen Wein trinken willst, so soll dich morgen der Stellwagen heimbringen.« »Als ich mittags in
den Saal kam, spazierte der Typhuskranke lustig umher, er hatte seinen Schoppen geleert und
seine nicht geringe Portion gegessen, fühlte indes noch einigen Hunger.«115
In den Lehrbüchern käme die Nostalgie noch schlechter weg wie in den Kliniken,
sie werde kurz erwähnt und unbestimmt geschildert. Ihr Verlauf könne durch Darnie-
derliegen aller Funktionen tödlich werden. Es könne auch das erste Stadium der eigent-
lichen Stimmungskrankheit überwunden werden, oder auch es können sich wie bei
allen Geisteskrankheiten (lypemanie systematisee)116 die entsprechenden Vorstel-
lungsweisen zu mehr [oder] weniger bestimmten Komplexen entwickeln. Die Nostalgie
wandle sich dann in Verfolgungswahnsinn, ekstatische Tobsucht, hypochondrische
Melancholie usw. um.
Aber man darf die Nostalgie nicht verwechseln mit der aktiven Sehnsucht eines
bewußten energischen Geistes, mit der sie keine Ähnlichkeit hat. »Der Jammer des Exi-
lierten, dem der Sieg einer feindlichen Partei das Vaterland geraubt, die Trauerlieder
eines Ovid, selbst die kläglichen Episteln Ciceros aus der Verbannung117 haben nichts
gemein mit der betäubenden Hilflosigkeit eines Nostalgischen. Wir haben schon oben
die Lächerlichkeit berührt, das Heimweh als die Sehnsucht eines zarten Gemüts nach
der erhabenen Szenerie und dem idyllischen Leben einer heimatlichen Landschaft
aufzufassen. Der beschränkte Bildungsgrad und die meist träge Natur der an Nostalgie
Leidenden eignet sich am wenigsten für eine derartige ästhetische Auffassung. Nimmt
die Poesie demnach das Heimweh in diesem Sinne zum Vorwurf ihrer Darstellungen,
so entsprechen die Empfindungen, welche jene Vorstellungen erwecken, am allerwe-
nigsten den Empfindungen des Heimwehs. Das Heimweh ist eine passive asthenische
Geisteskrankheit, ihre Symptome sind Symptome eines individuellen Mangels, sind
Schwächesymptome. Es scheint in seiner ersten Entfaltung mehr die Reaktion des
Gemütes gegen die Hilflosigkeit einer schwachen und seiner gewöhnlichen Stütze
beraubten Intelligenz zu sein.118 Es ist ein testimonium paupertatis.«119 Daher liegt die
Ursache der Nostalgie in bornierten Ortsverhältnissen und Beschäftigungen. Es han-
delt sich meist um eine stabile, sich im Kreise derselben Beschäftigung drehende Bevöl-
kerung, in welcher die Disposition zum Heimweh am reichlichsten entsteht. Das iso-
lierte Leben, der Stumpfsinn prädisponiert. Dem entsprechen Beobachtungen beim
 
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