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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0072
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Heimweh und Verbrechen

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Militär. Im Garderegiment zeichne sich die westfälische Kompagnie intensiv und
extensiv durch ihre Nostalgie aus. In Westfalen leben die Leute auch in isolierten Bau-
ernhäusern hinter Bäumen und Hecken in sehr beschränktem Horizont. Solche unter
dem Einflüsse derselben eintönigen Formen beschränkt gewordene Individuen verfal-
len in eine Art Betäubung, wenn man sie plötzlich in eine ganz neue Welt bringt. Es
ist zu verwundern, daß dies nicht häufiger geschieht. »So wenig ihr Geschmack den
Widerwillen gegen eine fremde Speise überwinden kann, so wenig ist ihr Gehirn
imstande, die große Menge fremdartiger Objekte zu bewältigen.«120
Was die mitgeteilten fünf Fälle betrifft, so handelt es sich um Dienstmädchen, die
ihre Heimat zum ersten Male verließen, um in Berlin ihr Fortkommen zu | finden. Alle
waren sogenannte gemütliche, zu rührenden Herzensergießungen geneigte Wesen.
Durch die stark kontrastierenden Verhältnisse und die anfänglichen Mißhelligkeiten,
die zum Teil wohl schon Symptome der Krankheit waren, kam diese zum Ausbruch,
deren eigentlicher Grund von allen verborgen wurde oder dessen sie sich vielleicht
auch gar nicht mehr bewußt waren. Das ist so bei allen Melancholischen, sie teilen
eher alles andere mit, als die Veranlassung ihrer Krankheit. Sind doch schon im nor-
malen Seelenleben die tiefsten Schmerzen solche, über welche man den Grund der
Schmerzen vergißt. Schließlich hatten alle fünf Patienten Halluzinationen oder Illu-
sionen von Eltern, Geschwistern oder sonstigen näheren Bekannten.
Soweit Meyer. Obgleich er das Thema von großen Gesichtspunkten anzusehen
versuchte, insbesondere die Beziehung des pathologischen Heimwehs zur physiologi-
schen Begrenztheit des Horizonts, wie Zangerl erkannte, vermochte seine Arbeit
doch nicht eine selbständige Heimwehpsychose sicher zu stellen. In Deutschland ist
nach ihm keine größere Arbeit über die Nostalgie erschienen. Die Blütezeit der Heim-
wehliteratur war mit den drei größeren Schriften von Zangerl, Schlegel und Jessen
vorüber. Es wurde noch hier und da erwähnt, aber in größeren Kreisen immer mehr
vergessen. Die Heimwehliteratur verschwand fast ganz, und die Fragen beschränkten
sich auf das forensische Gebiet.
Immerhin ist es von Interesse, einige der Orte auch bei hervorragenden Psychia-
tern zu verzeichnen, wo die Nostalgie noch ein Dasein fristete.
Längst hatte sie einen Platz in den Lehrbüchern gefunden. Esquirol erwähnt den
Selbstmord aus Heimweh.121 In deutschen Lehrbüchern wird die Nostalgie meist als
Unterform der Melancholie aufgezählt. Buzorini (1832) unterscheidet das wenn auch
heftig gesteigerte Heimweh, das doch mit Beseitigung der Ursache schwindet, von
den aus diesem Heimweh entstehenden selbständigen Krankheiten.122 Bird (1836)
macht auf die Nostalgie als auf ein eindrucksvolles Beispiel von der Wirkung der Seele
auf den Körper aufmerksam, gibt ihr sonst keine selbständige Stellung, sondern
betrachtet sie als eigenartige Form der Melancholie.123 Ebenso Guislain, der ihr Vor-
kommen bei der Armee im Krieg, bei Reisenden, in Klöstern und Gefängnissen
erwähnt. Er selbst habe es in Belgien nicht beobachtet.124 Als Ursache von Geistes-

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