Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0073
License: Free access  - all rights reserved
Overview
loading ...
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
30

Heimweh und Verbrechen

Störungen wird das Heimweh von Schüle aufgeführt.125 In Griesingers126 Lehrbuch
findet es als Unterart der Melancholie ebenfalls eine Stelle in allen Auflagen.127 Insbe-
sondere geht er auch auf die forensische Beurteilung ein. Emminghaus128 führt die
Nostalgie als eine durch spezifische psychische Ursachen bedingte Seelenstörung auf,
die symptomatologisch zur Gruppe der Melancholie gehöre. Sie komme besonders
bei jungen Landmädchen weiblichen Geschlechts vor und könne je nachdem For-
men von einfacher trauriger Verstimmung mit Zwangsvorstellungen, Schwermut und
Angst, Sinnestäuschungen, Wahnideen, Melancholie mit Zerstörungsimpulsen
annehmen. Im letzten Falle führe sie zu Gewalttaten, Brandstiftung und Mord pfle-
gebefohlener Kinder. Appetitmangel, Schlaflosigkeit, Furcht und Angst in der Nacht
seien häufige Symptome. Bei Arndt (1883) erscheint die Melancholia nostalgica.129
Meynert (1890)130 sagt von der Nostalgia, daß sie sich als besondere Ursache mit der
Amentia131 verbinden könne und noch Mendel in seiner Abhandlung über Melan-
19 cholie in Eulenburgs Realenzyklopädie referiert das alte Bild der | Nostalgia als Varie-
tät der Melancholie, bei der sich lebhafte Halluzinationen von der Heimat, Angst,
Seufzen, Hitze des Kopfes, Pulsbeschleunigung, Nahrungsverweigerung, Abmagerung
einstelle und nach melancholischen Delirien der Tod durch Phthise132 oder Selbst-
mord erfolge.133 Auch in die englische Literatur ging das Krankheitsbild über. Kellogg
(1897) schreibt, daß die Nostalgie unter der Melancholia Simplex einen besonderen
Platz verdiene.134 Sie trat in Armeen epidemisch auf, der Patient magert ab, hat Visio-
nen der Heimat, verzweifelt, begeht Selbstmord, Mord oder Brandstiftung oder stirbt
in einem deprimierten Zustand und Marasmus.
Französische Heimwehliteratur
Die französische Literatur geht ihre eigenen von der deutschen getrennten Wege. Ihre
Arbeiten beruhen meist wie die deutschen auf dem ersten Nostalgieautor Hofer, be-
rücksichtigen aber nicht die späteren deutschen Schriften. Insbesondere bleibt ihnen
die forensische Heimwehfrage ganz fremd, mit Ausnahme Marcs. Dieser referiert in
seinem Werke »Geisteskrankheit in Beziehung zur Rechtspflege« die Ansichten des
Masius135 ziemlich wörtlich, ohne etwas Neues hinzuzufügen. Im übrigen zeichnen
sich die französischen Arbeiten durch viel Poesie, gewandte lebendige Darstellung,
aber auch durch Einseitigkeit und Kritiklosigkeit aus.
Nach der langen Reihe kleinerer Schriften, die im Laufe des Jahrhunderts meist als
Thesen erschienen, wurden in den siebziger Jahren zwei umfangreiche Arbeiten
(Haspel136 und Benoist) veröffentlicht, die in ziemlich verschiedener Weise die Ein-
zelheiten der früheren zusammenfassen. Es wird genügen, wenn wir nach einer kur-
zen Übersicht der älteren diese beiden etwas eingehender referieren, um ein Bild der
französischen Forschungen zu gewinnen. Eine vollständige Besprechung aller würde
wegen der Unzugänglichkeit der meisten auch kaum möglich sein.
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften