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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0080
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Heimweh und Verbrechen

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Aber Masius betont, daß das Heimweh bei weitem nicht immer solche Wirkungen
auf das Gemüt habe, sondern es lege sich der kindischen Einfalt das Feueranlegen oft
bloß als ein Mittel dar, um aus dem Dienst entlaufen und zu den Eltern zurückkehren
zu können. Auch werde das Heimweh manchmal vorgeschützt, wo Rachsucht u. dergl.
der eigentliche Grund waren.
Auf ähnlichem Standpunkt wie die beiden genannten Autoren steht Vogel (1825).
Auch er führt neben dem Brandstiftungstrieb das Heimweh besonders an als Grund
der Unzurechnungsfähigkeit. Er hebt besonders hervor, daß das Heimweh die verschie-
densten Grade annehmen könne, daß nicht jedes Verlangen in die Heimat eine gesetz-
widrige Handlung entschuldige, daß dies dagegen wohl der Fall sei beim echten Heim-
weh, der Nostalgia, wenn es sich zu furchtbarer Höhe, zum wütendsten Wahnsinn oder
zur tiefsten Schwermut steigere.
Fleming (1830, Horns Arch. I. Bd. p. 256 ff., zit. nach Hettich)179 bestreitet die Mei-
nung des Masius, daß die Brandstiftung zur Lösung der Angst bei Heimweh erfolgen
könne. Er hält sie vielmehr immer für ein Mittel, um nach Hause zurückzukehren, her-
vorgegangen aus der Überlegung, mit Zerstörung der häuslichen Verhältnisse der
Dienstherrschaft werde auch das Dienstverhältnis aufgehoben. Fleming bestreitet
überhaupt die Existenz der Pyromanie und ließ dieser vermeintlichen Krankheit auch
keinen Platz beim Entstehen der Brandstiftung aus Heimweh.
Daß, wenn die Pyromanie auch sonst vorkommen möge, sie jedenfalls bei den Ver-
brechen aus Heimweh keine Rolle spiele, bewies Hettich (1840). Da nicht nur Brand-
stiftungen, sondern auch Mord und Brandstiftung vom selben Individuum oder nur
Mord aus Heimweh begangen würden, könne die Ursache davon eben nicht in einer
Pyromanie, sondern nur im Heimweh selbst liegen, sei es nun, daß wirkliche Verbre-
chen, um nach Hause zu kommen, vorlägen, oder auf dem Boden des Heimwehs
erwachsene unzurechnungsfähige Zustände. Hettich stellt die beiden Sätze auf: 1. Das
Heimweh kann einfach wie alle exzitierenden oder deprimierenden Affekte und Lei-
denschaften als Liebe, Zorn, Kummer usw. Begehung solcher Verbrechen, welche als
Mittel dienen, sich einer unangenehmen Lage zu entledigen, also zu einem selbstsüch-
tigen Zwecke verübt werden, veranlassen, ohne dadurch Zurechnungsunfähigkeit zu
bedingen, so wenig als jene Zustände. 2. Das Heimweh kann | aber entweder für sich
oder in Verbindung mit anderen Umständen (Jugend, Entwicklungsperiode, vorange-
gangene oder zurzeit vorhandene Krankheiten) eine Alteration erzeugen, welche sich
als wirkliches Irresein, oder wenigstens als das erste Stadium desselben (Mania affec-
tiva,l8° folie raisonnante,181 moral insanity182) ausspricht, somit eine vollkommene oder
teilweise Aufhebung der Zurechnungsfähigkeit bedingt.
Bei Beurteilung der Heimwehfälle rät Hettich zu beachten: erbliche Anlage, Alter,
Geschlecht (das weibliche herrscht vor), lymphatische Konstitution.183 Als negative Merk-
male dürfen nicht in Anspruch genommen werden: ein besonderes Temperament, die
Versetzung in eine bessere Lebensweise und eine geringe Entfernung vom Heimatsort.

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