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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0081
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Heimweh und Verbrechen

In den Handbüchern der gerichtlichen Psychologie wird regelmäßig die Nostalgie
erwähnt, sei es für sich, sei es unter der Pyromanie. Mende z.B. wiederholt, daß der
unwiderstehliche Trieb, sich durch eine außerordentliche Begebenheit von dem uner-
träglichen Gefühle eines tiefen Unbehagens zu befreien, eine maßgebende Rolle
spiele.184 Er beschreibt, wie das Heimweh dieses Unbehagen hervorruft, wie es eine
beständige geistige Unruhe und tiefe Traurigkeit schafft, die den Patienten für alles
Äußere gleichgültig macht. Sein Vorstellungsvermögen wird schwach, die Gedanken
verwirren sich. In diesem Zustand wird der fast blinde Trieb allmächtig, sich aus sei-
ner gegenwärtigen Lage herauszureißen und der Drang, in die früheren Verhältnisse
zurückzukehren. Zur Befriedigung dieses Triebes greift er, ohne auf anderes die min-
deste Rücksicht zu nehmen, da ihm alle Beurteilungsfähigkeit geschwunden ist, zu
den tollsten Mitteln, die ihn selber und andere in große Gefahr bringen und wohl gar
ins Verderben stürzen. Mende betont, daß bei solchen Heimwehakten von Bosheit
keine Rede sein könne.
Friedreich referiert in dem Kapitel über die Zurechnungsfähigkeit der Heimweh-
kranken Ansichten von Zangerl, Platner, Mende und Meckel.185 Er fordert die
Beachtung des Grades des Heimwehs zur Entscheidung der Zurechnungsfähigkeit.
Marc gibt nur die Ansichten von Masius über Heimweh wieder.
Auch Griesinger verlangt einen solchen Grad von Heimweh, bei dem die allge-
meinen Merkmale einer psychischen Krankheit vorhanden sind, zum Zustandekom-
men der Willensunfreiheit.
Wilbrand (1858) sagt vom Heimweh, daß es als vollständig ausgesprochene Krank-
heitsform unter die Psychosen, und zwar unter die Melancholie zu rechnen ist.186 So
wenig indessen jeder Trübsinn als Geistesstörung zu betrachten sei, so wenig auch
jedes Heimweh. Beide führen in ihrer Steigerung zu Geisteskrankheit. Da aber das
Heimweh in hohem Grade die Zurechnungsfähigkeit ganz ausschließe, können auch
geringe Grade desselben, bei welchen der Grund der Verschuldung weniger in bösli-
cher Absicht als in dem vorhandenen Heimweh zu suchen sei, einen Strafmilderungs-
grund abgeben.
Fleming (Allgem. Ztschr. f. Psychiatrie 1855)187 ist der Ansicht, daß Heimweh auch
stärksten Grades die Strafe nicht ausschließe, daß man vielmehr nachweisen müsse,
Heimweh sei die Ursache einer echten Geistesstörung geworden.
Richter findet bei seinen Brandstiftern sehr oft den Wunsch, aus dem Dienst zu
27 kommen und Heimweh. Doch bringt er nur wenig Fälle, wo dieses | im Vordergrund
steht. Bei diesen unterscheidet er nach Platner den Affekt Heimweh von der Krank-
heit Nostalgie, dem Schweizerheimweh. Letzteres macht sicher, ersteres oft unzurech-
nungsfähig.
Entgegen der kritischen und vorurteilsfreien Art Richters geht Casper in großer
Einseitigkeit in seiner Abhandlung, das »Gespenst des sogenannten Brandstiftungs-
triebes« darauf aus, alle früher der Pyromanie zugerechneten Handlungen als psycho-
 
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