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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0082
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Heimweh und Verbrechen

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logisch wohl verständliche Verbrechen darzustellen. Das Heimweh werde, wie bekannt,
von jungen Verbrechern sehr oft als Veranlassung der Tat angegeben. Eine eigentliche
Nostalgie mit den charakteristischen Symptomen habe er dabei nicht beobachtet.
Heimwehstimmungen kämen vor, aber zu nostalgischen Gemütsverstimmungen
käme es bei dem keine nachhaltigen Eindrücke gestattenden Kindes- und Jugendalter
kaum. Es handle sich meist um Trägheit und Arbeitsscheu, um Widerwillen gegen
einen harten Dienst, um Drang nach Freiheit und Ungebundenheit. Da erscheine die
Brandstiftung ihm gar nicht zweckwidrig, er findet nichts von Verkehrtheit und Unzu-
rechnungsfähigkeit. Es handle sich um Bubenstücke arbeitsscheuer, leichtsinniger,
ungezogener und unerzogener Mädchen und Knaben. Heimweh und den Wunsch,
aus dem Dienst zu kommen, erklärt er in bezug auf Brandstiftung für fast ganz zusam-
menfallend.
Die Kenntnisse über jugendliche Brandstifter in mustergültiger Weise kritisch
zusammenfassend hat Jessen (1860) auch des Heimwehs gedacht, das neben Rach-
sucht, Furcht, Unzufriedenheit und Mutwillen zu den für dies Verbrechen ursächlichen
Affekten gehört.188 Er weist darauf hin, daß man nur einen reinen Affekt Heimweh nen-
nen dürfe, daß dieser sowohl in normalen als auch in abnormen Geisteszuständen auf-
trete und an sich keine pathognomische Bedeutung habe. Der Nachweis, daß eine
Handlung aus Heimweh hervorgegangen sei, beweise weder die Gesundheit noch die
Krankheit des Handelnden. Übrigens scheine das Heimweh durchaus nicht eine der
häufigsten Veranlassungen von Brandstiftungen zu sein, wie das wohl behauptet
würde. An vier referierten Fällen (nach Zangerl, Richter und Hohnbaum) weist er
den allmählichen Übergang vom Heimwehaffekt zur Psychose nach. Er schließt daraus,
daß das Heimweh sowohl im normalen Zustand wie als Symptom von psychischen Stö-
rungen, die zwischen diesem und der ausgebildeten Melancholie liegen, vorkommen
kann. Heimweh entsteht oft aus der Präcordialangst,189 besonders nahe Beziehungen
hat es zum Wunsch, aus dem Dienst zu kommen, von dem es jedoch prinzipiell geschie-
den werden muß.
Auch in neuere forensisch-psychiatrische Werke ist das Heimwehverbrechen über-
gegangen. Kirn (Maschkas Handb. IV. Bd. p. 260,1882) erwähnt bei der in der Puber-
tätszeit auftretenden eigenartigen Melancholie, daß diese nicht grade selten in Ver-
bindung mit Chlorose190 bei jungen Mädchen im Dienst eintrete.191 Sie äußere sich
dann inhaltlich als Heimweh (Nostalgie) und führe, wenn sie unbeachtet bleibe, zu
unwiderstehlichen Zwangshandlungen, namentlich Brandstiftung.
Krafft-Ebing führt unter der Gruppe der an psychischer Depression Leidenden
die Heimwehkranken auf, die aus einfacher schmerzlicher Verstimmung, aus Angst-
gefühlen oder Zwangsvorstellungen verbrecherische Akte begehen.192
| Für Mönkemöller ist das Heimweh nur ein Symptom. Er schreibt: »Ist die Puber-
tätsentwickelung durch körperliche Anomalien gestört, am häufigsten durch schwere
Grade der Bleichsucht, so werden leicht psychische Verstimmungen ausgelöst, die mit

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