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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0132
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Heimweh und Verbrechen

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näher zu betrachten. Dabei werden im einzelnen auch Verschiedenheiten deutlich
werden.
Schon Schlegel, Zangerl und Jessen haben in ausgezeichneter Weise die psycho-
logische Entwicklung des Heimwehs geschildert. Das Kind ist wie der Naturmensch, ganz
eins mit seiner Umgebung. Es hat sich allein an diese, aber vollkommen angepaßt.
Nicht die Gemütsbewegungen, die durch eigenes Denken, inneres Erleben und Verar-
beiten entstehen, füllen es aus, sondern die Gefühlsbetonungen, die von den Eindrük-
ken der Umgebung ausgehen. Diese Umgebung (in erster Linie die Familie) ist noch
durchaus zu seiner Persönlichkeit gehörig, es ist ganz unselbständig und haltlos, wenn
man es aus derselben herausnimmt. Es ist dann »wie eine Pflanze, die aus dem Boden
genommen ist, in dem sie sich mit allen Wurzeln verankert hatte«.277
Wird nun ein Kind, das in diesem Entwickelungsstadium sich befindet, wo das Indi-
viduum noch mit dem Milieu eine Einheit bildet, ohne Übergang, wie es in den mei-
sten Fällen geschah, plötzlich von den Eltern fort in Dienst bei fremden Leuten
gebracht', so verliert es natürlicherweise allen Halt. Seine Angehörigen, das heimatli-
che Dorf, das ist seine Welt. Sein ganzes Leben beruht auf den Gefühlen, die diese
Umgebung in ihm wachruft. Es sind die einzigen, die sich in ihm entwickelt haben.
Es ist noch nichts in seine Seele getreten als die Liebe zu Eltern und Geschwistern, die
anderen Menschen sind ihm wie die fremde Umgebung ganz wertlos. Daher kann es,
bei entsprechenden Impulsen, auch so leicht das Kind, das bei ihm keinerlei Gefühle
zu erregen vermag, töten, das Haus, das ihm nichts ist, in Brand stecken. Es wäre wohl
imstande, | wenn im Rahmen des alten Milieus ihm Neues entgegentrete, dieses zu 70
assimilieren. Bei der Fülle des Neuen und der vollkommenen Trennung vom Alten ist
es nur ganz ratlos, aller Halt ist ihm geschwunden, alles Selbstbewußtsein, das in dem
Zusammenhang mit der Umgebung seine Stütze hatte, ist ihm verloren gegangen. Das
Neue weckt in dem jungen Wesen keine Gefühle, alles ist ihm gleichgültig. Es bemäch-
tigt sich seiner ein Gefühl, als ob es alles verloren hätte. Es wird von einer trostlosen
Traurigkeit befallen, die es nie überwinden zu können meint. So entstehen Zustände,
die cyclothymen ganz ähnlich werden. Ratzel gibt davon eine gute Schilderung: sein
ganzes Wesen wurde vertränt, die Welt war so einförmig und einfarbig, so gleichgül-
tig. Es ist das die Begleiterscheinung depressiver Verstimmungen, die Abstumpfung
des Gefühls. Die Gleichgültigkeit gegen die Umgebung wird vermehrt, ihre Überwin-
dung infolge der Depression ganz unmöglich. Zwar würde das Kind zu Hause sein altes
Gefühlsleben wieder gewinnen, hier ist es abgesehen von der Sehnsucht und allem,
was es in Gedanken an die Heimat erfüllt, gefühlsleer. Apoll, war gleichgültig gegen
i In seltenen Fällen trat das Heimweh erst beim zweiten Dienst auf oder bei Stellenwechsel (z.B. der
Fall Petersen, Rüsch). Entweder war auch das erste Mal ein lebhaftes Heimweh vorhanden, das nur
nicht zum Verbrechen führte, oder dem kindlichen Wesen war bei einer Stellung z.B. im
heimatlichen Dorfe das Einleben gelungen und beim Stellenwechsel in fremde Gegend traten dem
Heimweh ähnliche Zustände von Ratlosigkeit und Verstimmung auf.
 
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