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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0134
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Heimweh und Verbrechen

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Mitdenken und Miterleben behielt er der Heimat vor. Die Umgebung wurde mit
mechanischem Tun abgespeist. »Die ganze Liebe ins Erinnern, sodaß für das Tun des
Tages nichts mehr übrig blieb.«280
Von körperlichen Störungen wurden in der alten Literatur zahlreiche erwähnt, beson-
ders Blässe, Abmagerung, Herzklopfen, Verdauungs- und Schlafstörung, Nachtwan-
deln usw. Über den Schlaf wird bei Apoll, angegeben, daß er gut war. Ein öfteres Seuf-
zen fiel bei Hettich I auf. Häufig wird nur Appetitverlust angegeben. Apoll, stand bei
Tisch manchmal weinend abseits und aß nichts. Hettich I und Krebs aßen auffallend
wenig.
Oft werden die jungen Mädchen gezwungen, in Dienst zu treten und nur wider-
willig gehen sie fort. Das mag einen ungünstigen Einfluß haben. Aber gerade bei den
Heimwehkindern ist es manchmal anders. Apoll, ging gerne in Stellung. Eva B. weinte
zwar bei der Trennung, war aber selbst vollkommen einverstanden und freute sich auf
die neue Tätigkeit. Dagegen mag die Verstimmung durch die Hoffnungslosigkeit geför-
dert werden, die entsteht, wenn nach sehnsüchtig gewünschter Rückkehr in die Hei-
mat die Dienstzeit als unabsehbar lang erscheint. Es wirkte auf Eva B. in diesem Sinne,
als die Mutter zwar meinte, nach 14 Jahr könne sie zurückkehren, die Herrin ihr aber
mindestens ein Jahr in Aussicht stellte.
Die Größe der Entfernung vom Heimatsdorf spielt für die Entstehung des Heim-
wehs eine geringe Rolle. Schon Blumenbach erwähnt, daß es bei geringster Entfer-
nung auftreten kann. Apoll., Eva B., Hettich I waren mehrere Stunden, Krebs nur eine
Stunde von Hause im Dienst.
Man sollte meinen, daß der Kontrast der alten und neuen Verhältnisse eine große
Rolle spiele. Im oben ausgeführten Sinne sicher, aber die neuen brauchen durchaus
nicht ungünstiger zu sein. Apoll, kam aus ihrem armen Elternhause in bedeutend bes-
sere Verhältnisse, Eva B. jedenfalls in gute. Im Heimweh erscheinen die heimatlichen
Verhältnisse und mögen sie noch so schlecht sein, unter allen Umständen beglückend.
Bei anderen Mädchen mag auch die unfreundliche Behandlung zur Beförderung der
Depression mitwirken. Krebs fühlt sich rauher angefaßt als zu Hause, wird angetrie-
ben, fix zu machen, muß meist allein sein, kann sich nicht aussprechen. Der letzte
Punkt findet sich auch bei Eva B., die litt, weil sie bei der Frau kein Gehör fand und sich
bei niemandem aussprechen konnte.
| Bei ihr wirkten noch manche andere Umstände. Sie fürchtete sich vor dem Herrn
(Arzt), weil er in der Sprechstunde immer so laut schrie. Die Kinder ärgerten sie. Als sie
einen Cylinder zerschlug, drohte ihr der Junge, sie müsse ihn bezahlen, wodurch sie ganz
den Mut verlor. So mögen wohl manche Ereignisse an sich geringer Art die Heimweh-
verstimmung befördern. Manchmal wird das Heimweh vielleicht erst bei solchen Gele-
genheiten geweckt. Ist man doch in solch labilen Zuständen selbst für kleine psychische
Schädlichkeiten sehr angreifbar. Hierher gehören auch die körperlichen Krankheiten.
Diese wirken wohl bei Disponierten durch allgemeine Schwächung auf die Psyche, aber

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