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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0141
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Heimweh und Verbrechen

man zu seinem Vorkommen außer diesen Behauptungen und einigen Andeutungen
in der französischen Literatur über Selbstmord bei Kindern keinen Anhaltspunkt.
Ratzels Selbstschilderung gehört vielleicht hierher, doch ist sein Seelenleben zur Zeit
des Suizidversuchs so kompliziert, daß von einem Selbstmord nur aus Heimweh wohl
kaum gesprochen werden kann.
Nach der Tat ist das Benehmen der Mädchen meist unauffällig. Rüsch meldet
gleich, daß Feuer ist. Philipp, Hettich I. arbeiten noch, Petersen289 ißt mit gutem Appe-
tit, Apoll, geht wieder ins Bett. Krebs fühlt sich krank und legt sich zu Hause ins Bett.
78 | Ganz allgemein scheint von den Täterinnen ihre Tat anfangs geleugnet zu wer-
den. Die einzigen, die gleich gestehen, sind die sonst minderwertige Marie G. und die
Roßweinin Platners.
Nach mehr oder minder hartnäckigem Widerstand legen sie dann ihr Geständnis
ab. Hier ist es auffallend, wie oft die Angaben unklar und widersprechend sind. Die
Entwicklungsstufe der Mädchen erlaubt ihnen noch keine einigermaßen klare Selbst-
beobachtung. Das ist eine der Hauptschwierigkeiten für die Beurteilung. Bei der Beein-
flußbarkeit der jungen Seele wirken Suggestivfragen noch ganz anders als bei Erwach-
senen. Der Sinn für Wahrheit ist noch nicht ganz ausgeprägt und manche Sorge,
manche Furcht verführt sie zu falschen Angaben. Da meinen sie sich besser zu ent-
schuldigen, wenn sie, die sie doch kein Motiv wissen, sich der Unlust am Dienst
beschuldigen, Zorn über schlechte Behandlung, schlechtes Essen als Motiv angeben
usw. (Spittas Fall in Henkes Ztschr., Eva B.) Gross hat oft von nostalgischen Verbre-
cherinnen gehört: »Ich weiß nicht warum, ich mußte so handeln.«290 Diese werden
die Wahrheit gesagt haben, ebenso M. Belling: »Sie wisse es selbst nicht.«
Natürlich besteht auch die Gefahr, in junge Verbrecherinnen Heimweh hineinzu-
fragen, wo keines vorhanden war. Doch erscheint bei Berücksichtigung der Gesamt-
persönlichkeit und aller Umstände der Tat diese Gefahr nicht übertrieben groß. Selbst
Eva B., die von Heimweh erst auf Fragen der Ärzte sprach, kann man dieses glauben.
Per exclusionem kommt man dazu, wenn man nicht die Annahme eines absoluten
Rätsels vorzieht. Irrtümer sind in solchen Fällen möglich und ohne Zweifel bleibt häu-
fig ihre Beurteilung nicht.
Es findet sich übrigens mehrere Male nicht bloß ein Leugnen der Straftat, sondern
sogar Lügen werden gebraucht, und zwar auch grade von den sittlich sonst nicht Min-
derwertigen. Apoll, erfindet die Geschichte, daß sie das Arzneifläschchen mit der
Stopfnadel umgestoßen habe. Eva B. heuchelt vielleicht Krankheit. Hettich I. behaup-
tet, in guter Absicht Vitriolöl gegeben zu haben. Rüsch will den Brand zufällig verur-
sacht haben und schreibt gar Drohbriefe, durch die sie den Verdacht von sich ablen-
ken will. Alle korrigieren nachher diese falschen Angaben. Es scheint in der Natur der
kindlichen Seele zu liegen, in Angst und Furcht die Wahrheit nicht genau zu nehmen.
Ich erinnere nochmals an das Mädchen, das aus Sehnsucht bei der Mutter zu bleiben
und aus Furcht vor der Schule körperliche Krankheit simulierte (?).
 
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