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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0142
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Heimweh und Verbrechen

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Bemerkenswert ist das Verhalten der Reue. Einzelne werden sofort nach der Tat von
ihr befallen (Hohnbaum, Hettich L), andere - und das ist wohl die Mehrzahl - sind zu
kurzen Anwandlungen von Reue geneigt, ohne daß diese eine nachhaltige wäre und
einen tieferen Einfluß auf das Gemüt übte (Apoll., Eva B.). Einige lassen jede Reue ver-
missen. (Spitta in Henkes Ztschr.) Es scheint nach den Angaben der Täterin, daß mit
Zunahme der geistigen Entwicklung der Gedanke, einen Mord verübt zu haben, schwe-
rer auf Apoll, lastet. Es ist sonst noch nicht der kindlichen Psyche entsprechend, von
nachwirkenden Gewissenbissen gequält zu werden, zumal manche Heimwehverbre-
cherinnen, da sie nicht das Gefühl haben, einer bösen Regung, mit der sie kämpften,
unterlegen zu sein, wohl kaum eine Versündigung fühlen.
Die wichtige Frage, was aus den Heimwehverbrecherinnen wird, ist leider noch nicht
zu beantworten. Man erwartet von ihnen mit Recht, daß sie sich im | Gegensatz zu den
sittlich minderwertigen Brandstifterinnen als sozial erweisen, aber auch, daß sie wahr-
scheinlich in ihrem Leben noch manches psychopathische Symptom darbieten werden.
Am längsten nach der Tat beobachtet sind bis jetzt die beiden Heidelberger Fälle. Sie
haben sich beide sehr günstig entwickelt, Apoll, allerdings in der Sicherheit des Anstalts-
lebens. Eva B. hat aber draußen in dienender Stellung volle Zufriedenheit erregt und sich
nichts zuschulden kommen lassen.
Bevor wir auf eine kurze forensische Betrachtung eingehen, mögen noch einige
Erörterungen über die nosologische Stellung des Heimwehs erlaubt sein. Zu behaup-
ten, daß das Heimweh eine gesonderte Krankheitsspezies darstelle, würde den moder-
nen psychiatrischen Anschauungen durchaus widersprechen. Schon Damerow
behauptet, daß es eine der vielen Krankheitsbezeichnungen sei, die nach den näheren
oder entfernteren Anlässen gewählt seien.
Doch wird niemand bezweifeln, daß in den typischen Fällen, die beim Versuch der
Einordnung in bekannte Krankheitsbilder übrig bleiben, das Heimweh symptomato-
logisch das hervorstechendste Merkmal ist, daß der äußere Anlaß, die Entfernung aus
dem Elternhause, immer derselbe ist und daß die übrigen Symptome und begleiten-
den Umstände vielfache Ähnlichkeit haben, so daß die Zusammenfassung dieser
Zustände unter einem symptomatologischen Begriff »Heimwehpsychose«, »nostalgia«
berechtigt ist.
Nach Abscheidung aller Fälle, die zweifellos epileptisch, manisch-depressiv usw.
sind, haben aber die übrig bleibenden Fälle über das Symptomatologische hinaus
einen im Wesen begründeten Zusammenhang. Das pathologische Heimweh ist nicht
eine besondere Psychose, aber eine typische Reaktion neben vielen anderen bei kon-
stitutionell schwachen, degenerierten Individuen. Wie wir in dem ausgedehnten
Gebiet degenerativen Irreseins überhaupt keine abgegrenzten Krankheitsbilder auf-
stellen können, sondern Typen von Persönlichkeiten einerseits und Typen von Reak-
tionen auf äußere Einflüsse andererseits unterscheiden (z.B. Pseudologisten,291 konsti-
tutionell Verstimmte, Erregte, Haltlose usw. auf der einen Seite, Gefängnispsychosen,

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