Heimweh und Verbrechen
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Fälle bis jetzt nicht bekannt. Wenn die sittliche Minderwertigkeit eine maßgebende
Rolle spielte, so waren neben dem Heimweh Unlust, Unzufriedenheit, Rachsucht, Zorn
usw. wesentliche Faktoren. Es ist daher zunächst noch der Satz berechtigt: wenn als
einziger Grund eines Verbrechens bei intellektuell und moralisch bis dahin intakten
Individuen Heimweh vorliegt, so ist die Tat mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
unfrei.
Solche reine Fälle sind nun die selteneren, öfter werden die Heimwehverbrecherin-
nen mehrere Züge darbieten, die der Würdigung bedürfen, Schwachsinn, moralischen
Tiefstand, verschiedene Affekte usw. Dann wird man im Einzelfalle ein durchaus indi-
viduelles Bild entwerfen müssen und sich bewußt sein, daß die Übergänge zwischen
einer ethisch wertbaren und einer willensunfreien Handlung fließend sind. Man hat
es dann mit Grenzfällen zu tun, die nach den gewöhnlichen Prinzipien zu beurteilen
sind, welche hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Immer scheint es aber berech-
tigt zu sein, einem sicher konstatierten Heimweh eine überwiegende Bedeutung nach
der Seite der Unzurechnungsfähigkeit zuteil werden zu lassen.
Was nun die Beurteilung der Heimwehverbrecherinnen in einigen Fällen beson-
ders schwierig macht, das ist die Tatsache (Eva B., Rüsch, Spitta), daß manchmal eine
Grundlage der Verstimmung in der Gesamtpersönlichkeit fehlt, ein Verständnis durch
Anamnese und Status praesens nicht möglich ist. Man findet geistig und sittlich nicht
abnorme Individuen, die bald nach Beginn ihres Dienstes ein Verbrechen begehen,
für das sie nachher keine klare Motivierung | geben können. Irgend ein erklärlicher 81
Affekt als Ursache lag nicht vor, keine Rachsucht, kein Zorn, kein Neid. Zur Zeit der
Beobachtung erscheinen sie vollkommen geistesgesund. Von Heimweh ist später keine
Spur bemerkt und ihre Angabe über dasselbe ist nicht eindeutig und klar. Ihr guter
Charakter läßt die Tat der Umgebung ganz unverständlich erscheinen. Die Fälle sind
unter allen Umständen rätselhaft. Wilmanns hat den Standpunkt präzisiert, den man
in solchen Fällen mit einigem Recht einnehmen darf. »Wenn die Tat weder durch die
geistige und sittliche Veranlagung der Täterin, noch durch mächtige Beweggründe zu
erklären ist, dann ist sie ein psychologisches Rätsel. Dann darf ich sie jedoch nicht als
physiologisch betrachten, sondern zum mindesten den Verdacht äußern, daß sie
krankhaften Ursprungs ist.«293 Die jugendliche Entwicklungsstufe der psychiatrischen
Erkenntnis erlaube nicht, in diesen Fällen mit Bestimmtheit Zurechnungsfähigkeit
anzunehmen.
Findet man nun in einem solchen Fall einigermaßen konstante Angaben, die auf
Heimweh deuten, selbst wenn das Wort vielleicht nicht gebraucht ist, so hat man
einen Anhaltspunkt, das bis dahin absolut Unerklärliche dem Verständnis näher zu
bringen. Es besteht ja die Gefahr, durch Heimweh zu erklären, was ganz andere Ursa-
chen hat. Aber es besteht auch die Gefahr, Heimweh abzulehnen, wo solches vorlag,
weil die Betreffenden sicher zuweilen keine klaren Äußerungen darüber machen kön-
nen.
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Fälle bis jetzt nicht bekannt. Wenn die sittliche Minderwertigkeit eine maßgebende
Rolle spielte, so waren neben dem Heimweh Unlust, Unzufriedenheit, Rachsucht, Zorn
usw. wesentliche Faktoren. Es ist daher zunächst noch der Satz berechtigt: wenn als
einziger Grund eines Verbrechens bei intellektuell und moralisch bis dahin intakten
Individuen Heimweh vorliegt, so ist die Tat mit überwiegender Wahrscheinlichkeit
unfrei.
Solche reine Fälle sind nun die selteneren, öfter werden die Heimwehverbrecherin-
nen mehrere Züge darbieten, die der Würdigung bedürfen, Schwachsinn, moralischen
Tiefstand, verschiedene Affekte usw. Dann wird man im Einzelfalle ein durchaus indi-
viduelles Bild entwerfen müssen und sich bewußt sein, daß die Übergänge zwischen
einer ethisch wertbaren und einer willensunfreien Handlung fließend sind. Man hat
es dann mit Grenzfällen zu tun, die nach den gewöhnlichen Prinzipien zu beurteilen
sind, welche hier nicht wiederholt zu werden brauchen. Immer scheint es aber berech-
tigt zu sein, einem sicher konstatierten Heimweh eine überwiegende Bedeutung nach
der Seite der Unzurechnungsfähigkeit zuteil werden zu lassen.
Was nun die Beurteilung der Heimwehverbrecherinnen in einigen Fällen beson-
ders schwierig macht, das ist die Tatsache (Eva B., Rüsch, Spitta), daß manchmal eine
Grundlage der Verstimmung in der Gesamtpersönlichkeit fehlt, ein Verständnis durch
Anamnese und Status praesens nicht möglich ist. Man findet geistig und sittlich nicht
abnorme Individuen, die bald nach Beginn ihres Dienstes ein Verbrechen begehen,
für das sie nachher keine klare Motivierung | geben können. Irgend ein erklärlicher 81
Affekt als Ursache lag nicht vor, keine Rachsucht, kein Zorn, kein Neid. Zur Zeit der
Beobachtung erscheinen sie vollkommen geistesgesund. Von Heimweh ist später keine
Spur bemerkt und ihre Angabe über dasselbe ist nicht eindeutig und klar. Ihr guter
Charakter läßt die Tat der Umgebung ganz unverständlich erscheinen. Die Fälle sind
unter allen Umständen rätselhaft. Wilmanns hat den Standpunkt präzisiert, den man
in solchen Fällen mit einigem Recht einnehmen darf. »Wenn die Tat weder durch die
geistige und sittliche Veranlagung der Täterin, noch durch mächtige Beweggründe zu
erklären ist, dann ist sie ein psychologisches Rätsel. Dann darf ich sie jedoch nicht als
physiologisch betrachten, sondern zum mindesten den Verdacht äußern, daß sie
krankhaften Ursprungs ist.«293 Die jugendliche Entwicklungsstufe der psychiatrischen
Erkenntnis erlaube nicht, in diesen Fällen mit Bestimmtheit Zurechnungsfähigkeit
anzunehmen.
Findet man nun in einem solchen Fall einigermaßen konstante Angaben, die auf
Heimweh deuten, selbst wenn das Wort vielleicht nicht gebraucht ist, so hat man
einen Anhaltspunkt, das bis dahin absolut Unerklärliche dem Verständnis näher zu
bringen. Es besteht ja die Gefahr, durch Heimweh zu erklären, was ganz andere Ursa-
chen hat. Aber es besteht auch die Gefahr, Heimweh abzulehnen, wo solches vorlag,
weil die Betreffenden sicher zuweilen keine klaren Äußerungen darüber machen kön-
nen.