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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0145
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102

Heimweh und Verbrechen

Der Psychiater wird sich manchmal gezwungen sehen, ein non liquet294 auszuspre-
chen. Je mehr aber alles zu den eigentlichen Heimwehfällen paßt, desto mehr wird er
die überwiegende Möglichkeit aussprechen, daß eine willensunfreie Handlung vor-
liegt, wie Wilmanns'295 das in dem von ihm veröffentlichten Gutachten tat. Doch wird
die Sache bei dem jetzigen Stand psychiatrischer Methoden immer zweifelhaft sein.
Es ist natürlich zu bedenken, daß z.B. Fälle wie Eva B. und Apoll., wenn sie auch in
vielem zusammengehören, doch möglicherweise recht verschieden sind. Die Art der
Verstimmung mag recht abweichend sein, bei Eva B. noch auf anderen Ursachen als
reinem Heimweh beruhen. Zunächst können wir, bis eine reichere Kasuistik vorliegt,
82 solche Fälle nur provisorisch zusammenstellen. Wir | sind weit davon entfernt, über
sie endgültig aufgeklärt zu sein. Doch ist es möglich, daß ihre Zusammengehörigkeit
eine im Wesen begründete ist.
Es mag wohl behauptet werden, daß weniger das pathologische Heimweh, das noch
dazu manchmal fraglich sei, als der unreife Entwicklungszustand das Maßgebende sei.
Dann würde in solchen Fällen, wenn überhaupt, eine Exkulpierung auf Grund des § 56
erfolgen können. Das wäre theoretisch ganz berechtigt, weil ein kindliches Seelenle-
ben Voraussetzung für die Heimwehverbrechen ist. Doch forensisch hätte es keine
Bedeutung, denn die Einsicht in die Strafbarkeit der Handlung, die das Gesetz verlangt,
ist immer vorhanden. Wäre eine Exkulpierung auf Grund einer kindlichen Stufe nicht
nur des Verstandes-, sondern auch des Gefühls- und Willenslebens möglich, würde
dieser Weg vielleicht vorzuziehen sein. So ist die Unfreiheit des Willens nur durch Her-
vorhebung der psychopathischen Verstimmung unter Heranziehung der kindlichen
Art des Seelenlebens, nicht durch letztere allein zu begründen.

In einer Kritik des Wilmannschen Gutachtens gibt Bumke (Gaupps Centralbl. 1906, S. 118) eine
Darstellung, als ob Wilmanns folgenden Fehlschluß gemacht hätte: Die Tat ist rätselhaft. Die
Psychiatrie ist eine junge Wissenschaft, die manche rätselhafte Taten noch nicht verstehen kann.
Also sind rätselhafte Verbrechen mit höchster Wahrscheinlichkeit nicht zuzurechnen. Während
doch in Wilmanns Worten klar hervortritt, daß er durch die Prämissen sich nur berechtigt sieht,
den Verdacht auf das Vorliegen eines willensunfreien Zustandes zu haben, daß dann weiter die An-
gaben der Eva B., Heimweh gehabt zu haben, ihm glaubhaft erscheint und er deswegen in Berück-
sichtigung analoger Fälle mit Wahrscheinlichkeit krankhafte Störung der Geistestätigkeit an-
nimmt.
Außerdem betont Bumke die allgemein anerkannte Regel, daß der Nachweis der Geistesstörung
im Sinne § 51 St.G.B. aus der Analyse der gesamten geistigen Persönlichkeit des Angeklagten ge-
führt werden müsse. Daß diese in Fällen wie Eva B. (auch Spitta, Rüsch) nicht geschehen kann,
wurde schon bemerkt. Darum kann es sich hier auch nie um den Nachweis der Geistesstörung,
sondern nur um den Nachweis ihrer Wahrscheinlichkeit handeln. Dies ist erlaubt, weil sich die
Fälle an einwandfreiere anschließen, wie sie in dieser Schrift zusammengetragen sind. Wollte man
auf diesen Weg hier verzichten, würden Psychiater und Richter gleich ratlos dastehen. So ist aber
wenigstens ein mögliches Verständnis gewonnen worden und kann, wie bei Eva B., nach dem
Grundsatz in dubio pro reo verfahren werden.
 
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