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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0215
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Eifersuchtswahn

mehr ausübe, lautet die Antwort: »Dazu habe ich kein Bedürfnis.« Er gibt aber zu, nachts zeit-
weise Erektionen zu haben. Bei der Frage über seine Eifersuchtsideen äußert er, daß er sich nicht
entsinnen könne, seiner Frau eheliche Untreue vorgeworfen zu haben. Die Frage, ob er denn
nunmehr glaube, daß seine Frau ihm stets treu gewesen sei, beantwortet er das eine Mal mit »Ja«,
das andere Mal mit »Ich kann bei der Beschuldigung der Untreue im Unrecht oder Irrtum gewe-
sen sein«. Die Antworten erfolgten klar, schnell und bestimmt. Doch die Frage nach der eheli-
chen Treue wurde erst nach einiger Überlegung zögernd und vorsichtig beantwortet. Als er ein-
mal gefragt wurde, ob er es bisher noch nie für nötig gehalten habe, seine Frau oder den Pastor
um Verzeihung zu bitten für den schweren Verdacht, den er gegen sie ausgesprochen habe,
erklärte er nur: »Die Sache ist erledigt.« Die Erörterung war ihm peinlich.
Jetzt, 7 Jahre später, im Jahre 1910, gab uns der Hausarzt die Auskunft, »daß bei dem p. Kurz369
keine Heilung, keine Einsicht, eher eine Verschlimmerung eingetreten ist. Er ist seiner Frau, sei-
nen Kindern und Personal gegenüber stets mißtrauisch, wirft seiner Frau, wenn sie mal das Haus
zu kurzen Gängen verläßt, vor, daß sie sich herumtreibe, hat seit Jahren mit ihr keinen
geschlechtlichen Verkehr mehr ausgeübt. Ob er sonst verkehrt, entzieht sich der Kenntnis. Sei-
nen Ladenmädchen gegenüber - er hat Konditorei - ist er auffahrend, behauptet auch ihnen
gegenüber, sie trieben sich herum, neigten zur Hurerei usw., so daß es der Frau sehr schwer fällt,
das unbedingt notwendige männliche und weibliche Personal im Hause zu halten. Auffallend
ist, daß er gerne große Reisen unternimmt. So reiste er vor einiger Zeit ohne Veranlassung nach
Amerika, nach der Schweiz, unter Verwendung nicht unbedeutender Geldmittel. Zu Hause aber
geizt er. Alkoholiker ist er nicht. Mit Vorliebe zitiert er Bibelsprüche und behauptet auch das
Recht zu haben, seinen Dienstboten gegenüber von Hurerei zu reden, weil in der Bibel auch häu-
fig hiervon die Rede sei.«
Am ehesten scheint der Fall der milden Paranoia Friedmanns zu gleichen. Nur fin-
det man auch hier keinen rechten »Anlaß«. Einzelne Anlässe (Pastor) werden verwer-
tet, ohne als auslösend angesehen werden zu können. Von Klug und Mohr unterschei-
det er sich darin, daß jene nie Zweifel an der Wahrheit ihrer Ideen hegten und sie auf
Fragen nicht ableugneten, während dieser Fall vielleicht zuweilen selbst zweifelt,
jedenfalls völlig und dauernd dissimuliert. Jene zogen die logischen Konsequenzen
nach allen Richtungen. Der jetzige Fall wohl auch, insofern er mit seiner Frau nie wie-
der sexuell verkehrte, aber er ist nicht so klar, aktiv und konsequent wie jene. Es ist, als
ob er sich nicht sicher fühle. - Schließlich zeigt er eine langsame Entwicklung und
scheint von jeher eifersüchtig gewesen zu sein.
So scheint es also, als wenn sich die Kriterien des Eifersuchtswahns als »Entwicklung
einer Persönlichkeit« und als »Prozeß« hier mischten mit Überwiegen der letzteren. Das
kann uns im Grunde nicht besonders verwundern. Denn wir sahen ja, daß jede
Lebensentwicklung ein Prozeß ist, in den einfühlbare und rationale Zusammenhänge
eingebettet sind, daß aber der »Prozeß« des normalen Lebens als »Entwicklung« auf-
gefaßt werden kann, insofern man intuitiv in ihm die Einheit der Persönlichkeit erfaßt.
Wir sahen die hochgradige Subjektivität dieser Intuition und müssen sagen, daß das
»Neue«, das als der Persönlichkeitseinheit eigentümlich in bestimmten Lebensphasen
auftritt, und das »Neue«, das ihr als Heterogenes gegenübertritt, Übergänge zulassen.
 
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