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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0252
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Die Methoden der Intelligenzprüfung und der Begriff der Demenz

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halten; noch weniger aber, wie sie bisher sich verhalten haben, wenn nicht Tatsachen
es aussprechen. Beim Schwachsinnigen fehlen die Anregungen, die imstande wären,
das träge Leben nach allen Seiten hin in die ihm mögliche größte Bewegung zu setzen.
Nur der Verlauf von Jahren ist soweit fähig und bei einzelnen sogar die Geschichte
eines ganzen Lebens nötig, um alle Arten psychischer Erscheinungen am Schwachsin-
nigen, soweit sie ihm möglich sind, auftreten zu lassen.«466
Noch eine allgemeine Bemerkung möchten wir einflechten über den Unterschied
und den Gegensatz der psychologisch klaren und festen Begriffe und der Habitusschilde-
rung (Friedmann).467 Oft werden beide durcheinander gebraucht. Ein Autor beginnt
die Erörterung der Demenz mit scharfen Begriffsunterscheidungen, und plötzlich
tischt er breite Schilderungen auf und bringt Begriffe, die mit den nach der Einleitung
ihm scheinbar grundlegenden nichts zu tun haben. Die psychologischen Begriffe
abstrahieren in deutlicher Weise; was mit ihnen gemeint ist, ist in hohem Maße gene-
rell. Die Habitusschilderung abstrahiert möglichst wenig; ihre Leistung besteht vorwie-
gend in dem Erfassen des Individuellen. Nun hat die Habitusschilderung ihren großen
Wert, ja vielleicht ist sie das Wertvollste in der Entwicklung der Psychiatrie gewesen.
Aber man verlangt von methodischer Schulung, daß ein Bewußtsein davon besteht, um
was es sich handelt, was erreichbar ist, und was nicht prätendiert werden kann. Und in
dem Maße, als die psychologische Begriffsbildung fortschreitet, verlangt man ihre
Anwendung auch in der Psychopathologie, aber scharf unterschieden von der Habitus-
schilderung, deren Zweck, anschauliche Vermittlung von Kenntnissen an solche, die
den Gegenstand derselben noch nicht gesehen haben, durch die Begriffe nie erreicht
werden kann. Für den Psychologen sind Habitusschilderungen Voraussetzung.
Es liegt im Wesen der Habitusschilderung, daß sie mit nicht klar definierten, nicht
scharfen Begriffen arbeitet. Ihre Begriffe sind möglichst wenig abstrakt, möglichst
anschaulich. Ihr Sinn ergibt sich nie aus dem angewandten Wort allein, sondern aus
dem ganzen Zusammenhang der Schilderung. Die Schilderung kann nicht nach einem
bestimmten Rezept gemacht und gelernt werden, obwohl ein gewisser Plan, eine Dis-
position unentbehrlich sind, sondern erfordert eine gewisse künstlerische und sprach-
liche Begabung. Der Blick für | Charakteristika einer Erscheinung, ihre prägnante Wie- 174
dergabe sind beim psychiatrischen Habitusschilderer dieselben Eigenschaften, die ein
guter Novellenschriftsteller in Anschaulichkeit, Prägnanz und Kürze entfaltet. Diese
Eigenschaften sind aber selten, und gerade diese künstlerischen Qualitäten einiger
Psychiater (Griesinger, Schüle)468 haben uns durch die Gewinnung eines Schatzes
von Ausdrücken und Schilderungsweisen mehr vorwärts geholfen als manche rein wis-
senschaftliche Forschungsarbeit'.469

Diese Habitusschilderung mit ihren besonderen Aufgaben ist übrigens nicht unserer Wissenschaft
allein eigentümlich. Wer sehen will, welche Bedeutung dieselbe in Naturwissenschaften und Geo-
graphie hat, und welchen Anteil deren Künstler haben, lese Ratzel, Über Naturschilderung. 1906.
 
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