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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0274
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

231

tionen ohne Realitätsanerkennungi5°9 und kommt für Gesichtshalluzinationen zu dem
überraschenden Satz: »Optische subjektive Wahrnehmungen, denen das Subjekt den
Charakter der Realität | zuerkennt, gibt es bei ungetrübtem Bewußtsein überhaupt 193
nicht, in diesem Sinne sind also alle optischen Halluzinationen eigentlich Pseudohal-
luzinationen . «5I°
Hierin scheint uns eine Verkennung der Meinung Kandinskys zu liegen, die die
Berechtigung der Unterscheidung der Halluzinationen und Pseudohalluzinationen zu
gefährden droht. Wir werden zu zeigen haben, daß der Charakter der Objektivität
Wahrnehmungen zukommt, die trotzdem nicht für real gehalten werden, und kön-
nen so begründen, daß der Charakter der Objektivität vom Realitätsurteil prinzipiell
zu trennen ist. Wenn wir diesen deskriptiven Unterschied festgelegt haben, werden
wir erkennen, daß auch die Frage nach der Genese beider Phänomene auf völlig
getrennten Wegen beantwortet werden muß.
Kandinsky selbst hat seinen Begriff des Objektivitätscharakters und das Realitäts-
urteil nicht verwechselt, hat diesen Unterschied aber auch kaum betont und dadurch
der Verwechslung seiner Interpreten Vorschub geleistet. Es finden sich aber in seinem
Buche einzelne Stellen, die mehr nebenbei diesen Unterschied auch ausdrücklich her-
vorheben. Z.B. spricht er S. 136 von einem Kranken, der Gesichtshalluzinationen hatte,
»er gab sich Rechenschaft vom subjektiven Ursprung der halluzinatorischen Gesichts-
bilder, was übrigens diese letzteren nicht verhinderte, ihren objektiven Charakter zu
behaupten«.511 Oder S. 137 betont er, daß die Leibhaftigkeit der Halluzinationen und
ihre gleiche Geltung mit den Sinneswahrnehmungen »für das Bewußtsein (nicht für
das Urteil oder den Verstand)«11 bestehe.
Wir wollen es unternehmen, diese Andeutungen Kandinskys auszubauen. Um die
Frage nach der Verschiedenheit des Charakters der Objektivität und des Realitätsurteils
und dann die Fragen, die jedes dieser Phänomene für sich wiederum aufgibt, zu beantwor-
ten, versuchen wir zunächst eine Analyse der normalen Wahrnehmung, wie sie als ein fer-
tiges Ganzes uns zuerst gegeben ist, und darauf eine vorläufige Analyse des Realitätsurteils
zu entwickeln. Die Analyse der Wahrnehmung stellt sich als ein sehr kurzes Resume
bestimmter psychologischer Anschauungen dar, deren Begründung wir uns nicht zur Auf-
gabe machen, die wir vielmehr für unsere Zwecke hinzunehmen haben. Dieser Teil ist also
nicht als vorläufig für das Spätere, sondern nur als Vorbereitung anzusehen.
Wir analysieren die Wahrnehmung. Was heißt hier Analyse? Es heißt nicht, daß wir in
der Wahrnehmung die Elemente suchen, aus denen diese entsteht. Wir können die Wahr-

i Vgl. S. 1091 ff. S. 1093 heißt es: »Unsere Erörterung der Pseudohalluzinationen Kandinskys dürfte
besonders deutlich dargetan haben, daß zu einer prinzipiellen Abgrenzung von halluzinatori-
schen Vorgängen nur nach dem Gesichtspunkt der fehlenden oder vorhandenen Anerkennung
der objektiven Realität keinerlei Grund vorliegt.« Eine solche Abgrenzung hat Kandinsky nie vor-
nehmen wollen.
ü Von mir kursiv.
 
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