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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0280
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

237

Demgegenüber reden manche Psychologen von »Urteilen in der Wahrnehmung«.
Es ist auch nicht zu leugnen, daß fast immer mit Wahrnehmungen das Bewußtsein ver-
bunden ist, etwas Wirkliches vorzustellen. Dies hat H. Maier'522 betont und dies Bewußt-
sein als das primitivste Urteil gedeutet, das zwar nicht in einem vollständigen Aussage-
satze gefällt werde, aber denselben Sinn wie dieser habe. Wollte man diese elementaren
Urteile in Worten ausdrücken, könnte man etwa sagen: »die Sonne« oder »es leuchtet«.
Demgegenüber wäre ein vollständiges Urteil: »die Sonne leuchtet«. Aber das in den mei-
sten Wahrnehmungen - abgesehen von einigen Wahrnehmungen, die gerade den
Gegenstand dieses Aufsatzes zum Teil bilden - liegende Wirklichkeitsbewußtsein ist
doch so primitiv, daß es sich kaum in Worten ausdrücken läßt. Auf diese Weise wird es
den ausgesprochenen Urteilen viel zu sehr angenähert. Selbst die Bezeichnungen » Wirk-
lichkeitsbewußtsein« und »Wirklichkeitscharakter der Wahrnehmung« sind eigentlich
schon zu »ausdrücklich«. Der Gegensatz von Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit ist
dabei gar nicht im Bewußtsein. Die Wirklichkeit wird in der Wahrnehmung nicht aus-
drücklich im Gegensatz zur Unwirklichkeit anerkannt, aber es wird mit ihr gerechnet und
danach gehandelt, als ob sie eine Selbstverständlichkeit sei. Jene Bezeichnungen »Wirk-
lichkeitscharakter« und »Wirklichkeitsbewußtsein« müssen wir in Ermangelung besse-
rer doch beibehalten.
Von all dem, was in der Wahrnehmung unmittelbar gegeben ist (das Erleben der
Empfindungselemente, der räumlichen und zeitlichen Qualitäten, das wahrneh-
mende Meinen von Dingen und Kausalzusammenhängen), wollen | wir dies Wirklich- 199
keitsbewußtsein trennen. Erst recht ist von jener gegebenen Wahrnehmung zu trennen
der Vorgang der Urteilsbildung (sei es über die Realität eines wahrgenommenen »Din-
ges« oder »Kausalzusammenhangs« usw.), der auf Grund einer Wahrnehmung unter
Zuhilfenahme anderer Wahrnehmungen und Erinnerungsbilder erst entsteht. Das
Zustandekommen jener ersten Wahrnehmung liegt ganz außerhalb des Bewußtseins,
das Zustandekommen der ausgesprochenen Urteile im Bewußtsein. Das ist deskriptiv
ein prinzipieller Unterschied, den wir nie vergessen dürfen.
Um die Trennung von Wahrnehmungsakt, zu dem der Wirklichkeitscharakter
kommt, und Urteil recht deutlich zu haben, denken wir an ein Beispiel. Von normalen
Erscheinungen eignen sich relativ gut die Nachbilder.
Blicken wir etwa gelegentlich vom Kanapee auf die gegenüberliegende Wand und
sehen da auf der Tapete einen rechteckigen dunklen Fleck, so denken wir vielleicht: da
hat einmal ein Bild gehangen. Wir haben eine Wahrnehmung mit dem selbstverständ-
lichen Wirklichkeitscharakter und darauf ein Urteil über die Entstehung des Fleckes
erlebt: da hat einmal ein Bild gehangen“. Bei einer zufälligen Bewegung der Augen bemer-

i H. Maier, Psychologie des emotionalen Denkens, Tübingen 1908, S. 146/147.
ü In diesem Urteil ist ein Kausalzusammenhang gemeint, der im Gegensatz zu dem erwähnten Kau-
salzusammenhang zwischen der stoßenden und gestoßenen Billardkugel nicht wahrgenommen,
 
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