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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0285
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

Der Charakter der Objektivität ist ferner nicht identisch mit Detailliertheit, Ausge-
führtheit, Anschaulichkeit und Beständigkeit der sinnlichen Empfindungsinhalte.
Alles dies kann vorhanden sein ohne Objektivitätscharakter. Umgekehrt kann eine
sehr undeutliche, schattenhafte, schnell verschwindende Wahrnehmung diesen
Objektivitätscharakter besitzen.
Nachdem diese beiden möglichen Mißdeutungen abgelehnt sind, kehren wir zur
Frage des übergangslosen Gegensatzes zwischen Wahrnehmung und Vorstellung, mit
der die Einsicht in das Wesen des Objektivitätscharakters eng verknüpft ist, zurück.
An Wahrnehmungen sowohl wie an Vorstellungen können wir in dem früher
bestimmten Sinne das Material der Empfindungen, die raumzeitliche Anschauung und die
Akterlebnisse unterscheiden. Die Frage, ob Gegensatz oder Übergang, wird sich also in
die drei Unterfragen bezüglich dieser drei Momente gliedern.
Von den drei Unterfragen nehmen wir zunächst die nach dem Unterschiede im Emp-
findungsmaterial der Wahrnehmungen und Vorstellungen vor. Es sind jetzt also nicht
die ganzen Wahrnehmungen, sondern die EmpfindungseZemeute gemeint. Daß in sol-
cher Betrachtung eine Trennung erlaubt ist, obgleich es nie Empfindungselemente für
sich, sondern nur solche in Wahrnehmungen gibt, beruht darauf, daß wir eine Ände-
rung von Wahrnehmungen nach dieser einen Seite hin kennen, während die anderen
Seiten gleichbleiben. Z.B. wird bei Santoninvergiftung529 alles gelb gesehen bei glei-
cher Raumform und gleicher Intention auf dieselben Gegenstände.
Bezüglich des Unterschiedes der EmpfindungseZemeute in Wahrnehmung und Vor-
stellung sind drei Ansichten denkbar:
1. Die Empfindungselemente sind in beiden Fällen völlig identisch. Der Unter-
schied besteht nicht in diesen, sondern in ihrer Synthese, in dem Reichtum der Ele-
mente, die in Wahrnehmung oder Vorstellung vorhanden sind. Selbst das eintönige
Grau, in dem manche Menschen sich optisch alles vorstellen, ist als Grau dasselbe
Empfindungselement wie bei einer Wahrnehmung, in der dies Grau vorhanden ist.
2. Die Empfindungselemente in Wahrnehmung und Vorstellung sind der Inten-
sität nach verschieden. Damit ist zugleich gesagt, daß kein Gegensatz, sondern ein Über-
gang zwischen beiden besteht.
3. Jene Empfindungselemente sind übergangslos qualitativ verschieden. Ein
204 Empfindungselement einer Vorstellung ist mit dem einer Wahrnehmung | unver-
gleichbar. Beide liegen in ganz verschiedenen Sphären, in ganz verschiedenen Dimen-
sionen, zwischen denen kein Übergang möglich ist.
Einer näheren Erläuterung bedarf die Ansicht ad 2. Es ist sehr oft über den Intensi-
tätsunterschied zwischen Empfindung und Vorstellung geschrieben, aber der Begriff
der Intensität entbehrt in dieser Frage vielfach der vollen Deutlichkeit.
Ein Intensitätsbegriff ist ohne weiteres klar. Die sog. Empfindungsintensitäten ord-
nen sich in Reihen vom kaum hörbaren Laut bis zum Kanonendonner, vom eben
merklichen Schein bis zum blendenden Sonnenlicht. Diese Intensitätsreihe geht sicher
 
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