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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0286
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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nicht in Vorstellungen über. Man kann eine Empfindung, z.B. einen Lichtschein,
immer weiter an Helligkeit abnehmen lassen, er geht nicht schließlich in die Vorstel-
lung über, sondern er wird nicht mehr gesehen oder verschwindet in dem Spiel ent-
optischer Phänomene (nicht Vorstellungen), die unser objektives Gesichtsfeld ausfül-
len, wenn alle äußeren Wahrnehmungsreize aufgehoben sind*. Die jetzt gemeinte
Intensitätsreihe geht nicht in die Vorstellung über, wird vielmehr selber vorgestellt. Wir
stellen uns den leisen Ton leise und den lauten Kanonendonner laut vor.
Davon zu trennen ist die Frage, ob eine andersartige Intensitätsreihe z.B. vom leisen emp-
fundenen Ton zum leisen vorgestellten Ton führt. Ich bin nicht imstande, eine solche
Intensitätsreihe zu konstatieren. Ich finde keine Reihe, sondern ein Entweder-oder, bei dem
die Frage bleibt, ob die Empfindungselemente identisch oder qualitativ verschieden sind.
Andere Intensitätsbegriffe als die beiden genannten muß man für die Empfin-
dungselemente ablehnen. Besonders ist der vielfache Gebrauch des Wortes Intensität
für Detailliertheit und Deutlichkeit der Vorstellungen oder Wahrnehmungen irrefüh-
rend. Kandinsky z.B. schreibt, »daß die primären Sinnesvorstellungen (wenn ein
Gesichtsobjekt z.B. eine Zeichnung, nach Umrissen und Farben verschwommen ist)
sogar weniger intensiv sein können als Erinnerungsbilder von Gegenständen, die scharf
gesehen waren« (l.c. S. 162).530 Man spricht ebenso irreführend von Lebhaftigkeit, wenn
die Ausgeführtheit, Reichhaltigkeit und Deutlichkeit der Vorstellungen gemeint ist.
In allen diesen Fällen sind nicht Eigenschaften der EmpfindungseZemeute gemeint, son-
dern Eigentümlichkeiten ihrer Synthese und ihres Verlaufs. Braucht man hier den Aus-
druck Intensität, kann das nur im übertragenen Sinn gemeint sein. Dieser Gebrauch
scheint mir einer allgemeinen naturwissenschaftlichen Neigung zum Quantifizieren
zu entspringen, die hier am falschen Orte ausgeübt wird. Wie sollte man es sonst erklä-
ren, daß an Stelle sehr bezeichnender Worte wie Deutlichkeit, Klarheit, Detailliertheit,
Reichhaltigkeit der Ausdruck Intensität angewandt wird?
Ein weiterer in Vorstellungen zu beobachtender Unterschied scheint mir ebenfalls
nicht als Intensitätsunterschied bezeichnet werden zu dürfen. Manche Menschen kön-
nen sich viele Farben nicht vorstellen, sondern sehen in der Vorstellung alles grau, wis-
sen aber doch in der Vorstellung auch von diesen Farben und merken, daß ihre Vorstel-
lung nicht den Farben entspricht. Zwischen den Extremen, daß sich jemand jede Farbe
und Farbennuance vorstellen kann und dem, daß er bloß Schattierungen von Grau vor-
stellen kann, gibt es alle Über|gänge. Hier variiert bei verschiedenen Menschen die Vor-
stellungs/uZngkeitfür EmpfindungseZemeute. Sie müssen sich damit begnügen, für Emp-
findungslemente, die sie nicht vorstellen können, andere stellvertretend eintreten zu
lassen. Nun besteht natürlich eine Reihe zunehmender Annäherung an die der Wahrneh-
mung entsprechende vorgestellte Empfindung. Es ist das nur ein Ausdruck der Tatsache,
daß wir an sinnlichen Elementen weniger vor stellend als wahrnehmend erleben können.

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Vgl. die Besprechung der Arbeit von Külpe S. 289 ff. dieser Arbeit.
 
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