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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0287
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

Manche Sinne, wie der Geruchssinn, fallen in der Vorstellung für viele Menschen über-
haupt ganz aus. Jeder vorgestellten Empfindung entspricht nun aber irgendeine mögliche
wahrgenommene (nicht jeder wahrgenommenen eine vorgestellte), und sei es auf opti-
schem Gebiet ein bloßes Grau. In der Vorstellung brauchen wir statt der adäquaten also
vielfach stellvertretende sinnliche Elemente. Daß die stellvertretenden Elemente fast
ganz durch adäquate ersetzt werden, ist neben der Detailliertheit eine Eigenschaft der
Pseudohalluzinationen. Jeder Mensch hat irgendwelche den Empfindungen adäquate
Vorstellungselemente, denn jede vorgestellte Empfindung ist, wenn nicht der, für die sie
stellvertretend eintritt, so doch einer anderen adäquat, und sei es einem bloßen Grau.
Im Augenblick sofort nach der Wahrnehmung sind die Vorstellungsempfindungen fast
überall adäquat (Erinnerungsnachbilder). Man kann in diesem Falle gut beobachten,
wie die adäquaten Vorstellungselemente eben doch Vorstellungselemente sind.
Alle bisherigen Erörterungen zeigen schon, daß wir dazu neigen, zwischen den
Empfindungselementen von Wahrnehmung und Vorstellung einen übergangslosen
qualitativen Unterschied anzunehmen. Es ist dies eine Frage, die schließlich nur durch
bloßes Konstatieren, durch immer erneutes Vergleichen der Erlebnisse, durch wieder-
holtes Bemühen, sich die Dinge klar zur Gegebenheit zu bringen, entschieden werden
kann. Unsere Erörterungen haben nur den Zweck der Begriffsklärung und der deutli-
chen Festlegung der Fragestellung. Obgleich nun diese Empfindungselemente das Ein-
fachste von der Welt zu sein scheinen, ist es doch ungeheuer schwierig, zum endgül-
tigen Resultat zu kommen. Wir selbst sind uns trotz vieler Bemühung nicht sicher
geworden. Unsere vermutungsweise Ansicht ist oft vertreten worden, nur nicht in kon-
sequenter Beschränkung auf Empfindungselemente. Die besten Formulierungen fin-
den wir bei Lotze und bei Jodl. Lotze schreibt: »Nicht darin besteht dieser Unter-
schied, daß derselbe Zustand, den uns die Empfindung verursacht, nur in unendlich
abgeschwächterem Grade in der Erinnerung wiederkehrte, sondern darin, daß der letz-
teren das Gefühl des lebendigen Ergriffenseins mangelt, das alle Wahrnehmungen der
ersteren begleitet.«531 Und Jodl schreibt, daß die Vorstellung »weder eine schwache
noch eine starke Empfindung, sondern gar keine Empfindung« sei.532 -
Die zweite Frage ist, wie sich das räumliche Moment in Wahrnehmung und Vorstel-
lung verhält. Zunächst sind dieselben drei Antworten möglich wie beim Empfindungs-
material und wären in ähnlicher Weise zu diskutieren. Aber ein Unterschiedbesteht zwi-
schen Empfindungsmaterial und Raumanschauung. Wenn die Empfindungselemente
in Wahrnehmung und Vorstellung identisch wären, so ständen sie auch miteinander
in Kontinuität. Ob ein Empfindungselement Teil einer Vorstellung oder Teil einer
Wahrnehmung wäre, würde gleichgültig sein, und es stände nichts im Wege, daß das
206 gleiche Element »blau« | aus der Vorstellung im nächsten Augenblick illusionärer
Bestandteil einer Wahrnehmung wird. Anders bei der räumlichen Anschauung. Die
Unterscheidung Kandinskys in objektiven und subjektiven Raum schließt zwar nicht
aus, daß beide Raumanschauungen in allen Beziehungen außer einer völlig identisch
 
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