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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0295
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252

Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

Gesicht und Gehör zwischen Pseudohalluzinationen und Halluzinationen von Kran-
ken, die beobachtet sind, beim Tastsinn noch nicht gemacht wurden. Ich selbst habe
vielfach nach solchen Unterscheidungen gesucht, ohne sie bisher gefunden zu haben.
Ich zweifle aber nicht, daß unter günstigen Umständen bei zur Beobachtung fähigen
Kranken der Unterschied der pseudohalluzinatorischen Vorstellungen und echten
Halluzinationen auch auf dieses Gebiet ausgedehnt werden kann. -
Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, was alles »leibhaftig« ist. Leibhaftig sind
die Gegenstände der normalen Wahrnehmung, leibhaftig die Neigung der Linien in
der Zoellnerschen Täuschung, leibhaftig die Nachbilder, leibhaftig der undeutlichste
Lichtschein und das leiseste Geräusch, leibhaftig sind die echten Trugwahrnehmun-
gen, die Stimmen, die Illusionen usw. Alle diese Phänomene mögen genetisch, ja sie
mögen in allem anderen verschieden sein, das Gemeinsame ist die Leibhaftigkeit. Wir
sahen schon, was wir später noch genauer sehen werden, daß diese Leibhaftigkeit
etwas ganz anderes ist als Realität, und daß die Konstatierung der Leibhaftigkeit vom
Realitätsurteil als wesensverschieden zu trennen ist.
Worin die Leibhaftigkeit besteht, ist uns noch nicht klar geworden. Sie ist für das
Bewußtsein zwar etwas Letztes im Gegensatz zur Bildhaftigkeit »Gegebenes«. Aber wir
wollen darum doch wissen, wie sie mit den Elementen, die wir in gleicher Weise aus
Wahrnehmung und Vorstellung herausanalysieren, zusammenhängt. Ob die Empfin-
dungselemente in beiden Fällen verschieden sind, mußte problematisch bleiben.
Bezüglich der räumlichen Eigenschaften fanden wir, daß die Räumlichkeit in subjekti-
ven und objektiven Raum getrennt ist, daß alles Leibhaftige im objektiven Raum vor-
liegt, und daß zwischen beiden Räumlichkeiten eine Diskontinuität besteht.
Wir kommen nun zum dritten Element, den Akten. Aus den Empfindungen werden
uns erst Gegenstände durch Weisen des »Meinens«, durch ein Gegenüberstellen. Die
Weisen dieses Gegenüberstellens gliedern sich mannigfach. Es werden unterschieden
die setzenden (als wirklich oder wahr anerkennenden) und die nicht setzenden Akte,
die bloß meinenden Akte (die die Wirklichkeit oder Wahrheit eines Gegenstandes oder
213 Sachverhaltes dahingestellt sein lassen), | die ihren Gegenstand als gegenwärtig oder
abwesend meinenden Akte usw. Können wir den Gegensatz der Leibhaftigkeit und
Bildhaftigkeit auf diese Weise in einem Unterschied der Akte finden? Dies scheint der
Fall zu sein. Beim Empfindungsmaterial können wir zweifelhaft über einen prinzipi-
ellen Unterschied sein, die besprochene Räumlichkeit als etwas zum Begreifen der
Leibhaftigkeit Ungenügendes ansehen, die Arten des Meinens sind sicher prinzipiell
verschieden; und es sind Arten des Meinens, wenn ich etwas als leibhaftig oder wenn
ich etwas als Vorstellung, als Bild, als innerliche Anschauung (und sei es eine Pseudo-
halluzination) meine. Vor dem Unterschied der ihren Gegenstand als real gegenwär-
tig oder als abwesend oder als überhaupt unwirklich meinenden Akte liegt der Unter-
schied der Akte, die unabhängig davon, welcher von den ebengenannten Akten sich
auf ihnen aufbaut, den Gegenstand als leibhaftig oder als vorgestellt meinen. Ande-
 
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