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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0297
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

sonst für Probleme in ihm liegen, haben wir auseinandergelegt, allerdings nicht mit dem
Erfolg, hier etwas Wesentliches und Neues erkannt zu haben, sondern nur mit dem, eine
Gliederung und Sonderung der vielfach vermischten Fragen zu besitzen.
Mag nun aber auch in der Leibhaftigkeit eine besondere Eigenschaft der Empfin-
dungselemente oder anderes liegen, jedenfalls ist die Sache nicht so, daß etwa im
Bewußtsein nach Art einer Schlußfolge eine Abhängigkeit des »als leibhaftig Meinens«
von anderen Elementen stattfände. Die Genese des Leibhaftigkeitscharakters liegt
außerhalb des Bewußtseins. Dieser Charakter ist etwas letzthin Gegebenes, nicht Geur-
teiltes, etwas, das man sich zum Bewußtsein bringen, das man aber nicht erschließen kann.
Damit sind wir auf die Frage nach der Genese dieses deskriptiv letzten Objektivitäts-
charakters gekommen. Woher kommt es, daß die Empfindungen diese besondere Qua-
lität, daß Wahrnehmungen die objektive Räumlichkeit besitzen und daß die Gegen-
ständlichkeit, die für das Bewußtsein immer entweder leibhaftig oder bildhaftig
(vorgestellt) ist, ihre Leibhaftigkeit gewinnt? Welches ist die Ursache oder der Ursa-
chenkomplex der Leibhaftigkeit, dieser Komplex, der normalerweise durch die ent-
fernteren Ursachen der äußeren Reize, pathologischerweise durch andere Vorgänge
bedingt ist? Wir können gleich feststellen, daß wir darüber gar nichts wissen. Wir sind
der Meinung, daß man zur Zeit auch keinen Weg sieht, darüber etwas zu erfahren. Aber
Ansichten darüber sind vielfach geäußert, deren Charakterisierung not tut. Es gibt drei
Wege des Erklärens durch außerbewußte Vorgänge, die wir durch drei Typen der Erklärung
des Objektivitätscharakters illustrieren wollen:
1. Durch erfahrungsmäßige Feststellung eines Zusammenhangs mit somatischen Vor-
gängen. Kandinskys Ansicht von der Reizung subcorticaler Ganglien als Bedingung
des Objektivitätscharakters ist eine bloße Vermutung, keine Erfahrung. Die Behaup-
tung, daß die Leibhaftigkeit durch Reizungen in den Sinnesflächen der Hirnrinde
zustande käme, ist so allgemein, daß sie wenig bedeutet. Auch sie ist keine Erfahrung,
sondern Vermutung oder, allerdings unabweisliches, Postulat.
2. Durch eine Theorie außerbewußten psychischen Geschehens. Z.B. haben nach
Lipps*551 alle Vorstellungen die Tendenz, zum vollen Erleben zu kommen, d.h. leibhaf-
tige Halluzinationen zu werden. Wenn nicht normalerweise Gegenwirkungen statt-
fänden, würde das immer geschehen. Auch Ansichten Freuds über Genese der Hallu-
zinationen gehören hierher.552 Immer wird hier der Unterschied der Halluzinationen
215 und Pseudohalluzinationen vernachlässigt (oder ist | gar nicht bekannt). Darum sagen
auch diese Theorien über den Objektivitätscharakter im engeren, allein klaren Sinne,
in dem nicht Detailliertheit der Vorstellungen oder Unabhängigkeit vom Willen mit
gemeint ist, wenig aus.
3. Durch Annahme kausaler Beziehungen zwischen Elementen, die jedes für sich
im Bewußtsein bemerkt werden können, deren Kausalbeziehung aber nicht verständ-

Lipps, Vom Fühlen, Wollen und Denken, 2. Aufl., S. 103.
 
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