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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0298
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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lieh, sondern außerbewußt und damit immer hypothetisch ist. Besonders die Organ-
empfindungen spielen als Typus dieser Erklärungsart eine große Rolle. Nach
Wernicke553 z.B. liegt in ihrem Vorhandensein der Unterschied zwischen Wahrneh-
mung und Vorstellung, hat also ihr Dasein den Objektivitätscharakter zur Folge. Eine
Kritik der Bedeutung der Organempfindungen ist in klarer Weise von Goldstein (S.
601 ff.) gegeben, der ich nichts Wesentliches hinzuzufügen hätte.
Die Analyse der Leibhaftigkeit der Trugwahrnehmungen wie der normalen Wahr-
nehmungen gegenüber der Bildhaftigkeit der Vorstellungen scheint arge Selbstver-
ständlichkeiten zu ergeben. Das ist kein Einwand gegen ihre Richtigkeit. Und diese
vielfach vergessenen Selbstverständlichkeiten hervorzuheben scheint uns bei der
gegenwärtigen Lage der Lehre von den Sinnestäuschungen nötig. Ergibt sich doch so
erst die übersehene fundamentale Trennung des Charakters der Leibhaftigkeit von
dem Realitätsurteil und wird so die Sonderstellung der Pseudohalluzinationen
Kandinskys als pathologischer Vorstellungen, die noch immer nicht in ihrer Klarheit
erkannt und anerkannt ist, von neuem bekräftigt. Schließlich ist das Bewußtsein die-
ser selbstverständlichen Unterscheidungen eine Basis für die weitere Untersuchung,
insbesondere des Realitätsurteils.
Wir haben das Meinen der Gegenstände als »leibhaftiger« immer unterschieden von
dem Meinen derselben als »wirklich seiender«.
Diese Unterscheidung ist für das normale Leben anscheinend eine sehr künstliche,
weil beides immer zusammenzufallen pflegt. Schon die Sinnestäuschungen, wie die
Zoellnersche Täuschung, erst recht aber die Trugwahrnehmung belehrten uns über
die Trennung dieser tatsächlich eng zusammengehörigen Gebilde.
Diese Zusammengehörigkeit besteht darin, daß alle Leibhaftigkeit uns die sicher-
ste Überzeugung von der Wirklichkeit der Gegenstände gibt. Wenn wir die einzelne
Sinneswahrnehmung für sich nehmen, ohne Erwägungen aus früherer Erfahrung her-
beizuziehen, ist uns deren Leibhaftigkeit das Kriterium, daß wir eine Realität vor uns
haben.
Aber die Leibhaftigkeit ist nur ein Kriterium. Das Bewußtsein der Realität kann auf
einer viel breiteren Basis ruhen. Von einem undifferenzierten Zustand, in dem ohne
Kritik unvorsichtig jede Leibhaftigkeit für Realität genommen wird, in dem überhaupt
nicht die Frage, ob auch in Wahrheit Realität vorliege, aufgeworfen wird, bis zur Aus-
führung umfassender Erwägungen und Untersuchungen über eine Realität führt eine
lange Reihe abgestuften Umfangs der seelischen Vorgänge, die dem Bewußtsein der
Realität vorausgehen.
In dem undifferenzierten Zustand, der bei niedriger Entwicklungsstufe, in Bewußt-
seinstrübungen und gegenüber gleichgültigen Gegenständen bei mangelnder Auf-
merksamkeit vorkommt, wollen wir von einem Wirklichkeitscharakter der Gegenstände
reden. Mit ihm wollen wir uns erst beschäftigen, wenn wir die differenzierten Vorgänge
der Realitätsurteile betrachtet haben.
 
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