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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0323
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280

Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

Ohren«. Wie ein Blitz schnell erscheinend und wieder verschwindend, kamen Worte und Figu-
ren. Seine Vorstellungen sind dabei wie früher, er hat keine willkürliche plastische Einbildungs-
kraft. Alle die Phänomene kommen ungerufen und ungewollt.
Immer handelt es sich um denselben Inhaltskomplex: der Lehrer macht ihm Vorwürfe, daß
er sich nicht hergeben wolle für kommunale Zwecke. Ein anderer droht, er werde seine ganze
Verachtung an ihm ausschütten, wenn er sich nicht bereit erkläre, daran teilzunehmen u. dgl.
Die nächtlichen Träume sind so lebhaft, daß er meint, er sei wach gewesen. Aber seine Frau
hat ihm gesagt, er habe fest geschlafen und geschnarcht.
Die Häufigkeit der Phantasien wechselt. Wenn er in Gesellschaft war, auch schon in der
Gesellschaft, werden sie häufiger.
Als Mensch sei er anders als die übrigen. Er sei ein »Einsamer«, hänge gern seinen Träumen
nach. Wenn einer ihm was Grobes sage, müsse er lange darüber fortspinnen. In großer Gesell-
schaft werde er immer still. Mit Frau und Kindern lebe er glücklich. Seine Lebensstimmung sei
nicht gedrückt. Er habe Neigung, alles humorvoll aufzunehmen.
Er gibt nicht besonders gewandte Auskunft, muß sich viel fragen lassen. Dabei redet er aber
viel. Er hat ein dauernd lächelndes Gesicht. Bei Erregung tritt häufig einseitiger Facialiskrampf
auf (Tic convulsiv)565. Er ist verlegen, geniert sich mit seinen Phantasien. Er hat Sorge, daß dahin-
ter was steckt. Einmal fürchtet er eine Geisteskrankheit. Dann denkt er, es könne doch vielleicht
irgend etwas wie Fortpflanzung der Gedanken geben. Manchmal habe er »das Gefühl, als ob
seine Gedanken durch alle Herzen in Lauerheim blitzen täten«. Das habe ihn furchtbar aufge-
regt. »So was gibt es doch nicht, Herr Doktor?« Dies Gefühl, daß seine Gedanken herausblitzen,
scheint damit zusammenzuhängen, daß gleichzeitig die Schatten der Leute vor seinen Augen
erscheinen, wenn seine Gedanken mit ihnen zu tun haben. Aber er kann selbst nicht recht
beschreiben, wie das eigentlich ist.
Es beruhigt ihn außerordentlich, sich zu vergewissern, was er ja auch selbst glaubte, daß das
nicht auf wirklichen Vorgängen beruhen könne. Ebenso beruhigt es ihn, daß man ihm Hoffnung
auf baldige Heilung macht. Daß die anderen ihm seine Erscheinungen machen, diese Idee hat
er kaum ernstlich geglaubt, ist j ebenfalls j etzt ganz davon abgebracht. Aber einmal sei doch was
Merkwürdiges passiert, was ihn wieder an Gedankenübertragung habe denken lassen. Er dachte
bei einem Tanzvergnügen, wie er sich über die Leute ärgerte: ich sprenge die ganze Gesellschaft
mit Dynamit in die Luft. Gleich nachher kam einer der Herren, zeigte etwas und sagte wie zum
Hohn: »Das ist Dynamit, meine Herren.« Er habe im Augenblick gemeint, da sei Gedankenfort-
pflanzung im Spiel. Jetzt glaube er das ja nicht mehr. Allerdings ist es ihm auch hier wieder beru-
higend, seine Meinung vom Arzte bestätigt zu hören.
Die bei Bewußtseinsveränderung erfahrenen Erlebnisse lassen wir beiseite'.566 Die
isolierten Trugwahrnehmungen waren nach unserer Ansicht Pseudohalluzinationen.

Halluzinationen können zusammentreten und zusammenhängende Erlebnisse bilden, wie in dem
ersten der beschriebenen Fälle. Der Inhalt der Halluzinationen ist dann derart, daß er sich mit re-
alen Wahrnehmungen oder in sich selbst zu sinnvollem Zusammenhang bringen läßt. Diese Vor-
gänge sind Erlebnisse in dem Sinne, wie alle Wahrnehmungen auch im gesunden Leben Erlebnisse
sein können. Demgegenüber möchten wir als technischen Terminus das Wort »Erlebnis« reservie-
ren für die von dem gewöhnlichen Erleben abgesprengten Zusammenhänge, die entweder bei völligem Ent-
rücktsein oder in merkwürdiger Verschlingung mit der realen Wahrnehmung bei Bewußtseinsveränderung
 
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