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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0326
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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sie letztlich doch überzeugt von der Wirklichkeit derselben sind. Spielen diese gewis-
sermaßen mit dem Gedanken der Unwirklichkeit ihrer für sie offenbar wirklichen Stim-
men, so spielte unser Kranker mit dem Gedanken der Wirklichkeit seiner für ihn offen-
bar unwirklichen Wahrnehmungen. Und daß diese so unmittelbar als unwirklich
erkannt wurden, dies lag wahrscheinlich an ihrer vom Kranken nicht im ausdrückli-
chen psychologischen Urteil bemerkten Eigenschaft als Pseudohalluzinationen. Daß
er diese nicht bemerkte, konnte zugleich jene Lokalisation im objektiven Raum und
die nicht völlig ernst gemeinten Realitätserwägungen hervorrufen.
Wir wenden uns zu einem weiteren Fall:
Friedrich Weber, ein 48 Jahre alter Landstreicher, ist seit mehreren Wochen, nach einem Unfall,
ruhelos und deprimiert. Im früheren Leben hatte er nach seinen Angaben nie eine Depression.
Er hörte »Geisterstimmen«, die sein ganzes Leben kannten, ihm alles vorwarfen, was er je ver-
brochen habe. Sie beschuldigten ihn, früher eine Ziege geschlechtlich mißbraucht zu haben,
Obst gestohlen zu haben usw. Mit allem hatten sie seiner Meinung nach durchaus | recht. Alle
Menschen wußten von seinen Freveltaten. In der Verzweiflung machte er einen Erhängungsver-
such. Der Strick riß. Er stand da, blutete ein wenig, setzte seinen Hut auf und ging weiter.
Januar 1911 wurde er in die Klinik gebracht. Er war orientiert und besonnen. Sein Gesichts-
ausdruck war tief bekümmert, alle geistigen Prozesse objektiv verlangsamt. Leise Stimme, lange
Pausen. Zu jeder Auskunft ohne Widerstand bereit. Er klagte, es liege ein Druck auf ihm, er habe
keine Ruhe, am liebsten wäre er tot. Wenn er zu Menschen komme, fürchte er jedesmal, sie jag-
ten ihn fort wegen seiner Sünden.
Die Geisterstimmen höre er seit mehreren Wochen bei Tag und bei Nacht. Oft seien sie undeut-
lich, besonders wenn es in seiner Umgebung laut sei. Nur wenn es ganz still um ihn sei (wenn
jemand redet, höre ich nichts), wenn nachts alle schlafen, dann höre er sie deutlich. Auch dann
seien diese Stimmen ganz leise, viel leiser als wie ich spreche, auch noch leiser als es ist, wenn
ich ihm so leise wie möglich zuflüstere. Auch weiter weg als mein Flüstern seien die Stimmen.
Auf die Frage, ob andere die Stimmen auch hören, meint er einen Tag, daß dies der Fall sei, und
daß infolgedessen alle Menschen von seinen Freveln wissen, am anderen Tage meint er aber das
Gegenteil: die anderen könnten die Stimmen nicht hören, sie seien zu leise.
Die Stimmen kommen von oben oder mehr von rechts. Er habe oft hingesehen, aber es sei
niemand da. Die Stimmen seien doch so nah, daß sie nicht von Menschen über der Decke kom-
men könnten, darum müßten es wohl Geisterstimmen sein. Die Stimmen werfen ihm alles vor,
was er je Böses getan hat, und haben inhaltlich seiner Ansicht nach recht. Er wisse nicht, ob es
gute oder böse Geister seien.
Auch Menschen auf der Straße haben ihm Schimpfworte nachgerufen, wenn er ganz nahe
an ihnen vorbeiging. Das war erst in letzter Zeit, früher habe er auf der Straße Ruhe gehabt. Man
rief: »Kaiservögler«, »Granlump«, »Sauhund«. Er habe nie jemanden zur Rede gestellt.
Er hält die Stimmen für wirklich, sie kommen von außen, nicht aus seinem Kopf.
Keine Bilder, keine quälenden Vorstellungen, keine Mißempfindungen, Geschmacks- oder
Geruchstäuschungen. -
Nach mehreren Wochen, die er im Bett verbrachte, machte er noch ganz ähnliche Angaben.
Er sei traurig, denke: »hättest du doch anders gelebt«. Aber »verschüttete Wasser kann man nicht
mehr aufheben«. Er sinne immer hin und her.

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