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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0330
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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den männliche und weibliche Geschlechtsteile an seinen Mund gebracht, so daß er am anderen
Morgen Bauchgrimmen hat. Durch den Nacken und durch die Glutäalgegend, wo er die vermeint-
lichen Stellen als noch sichtbar dem Arzt zeigt, werden rote Papierstücke eingestopft, er fühlt es
im ganzen Schädel, wie es drückt, und bis weit ins linke Bein hinein wird alles vollgestopft.
Der Kranke hat auch Hexen gesehen, wie sie in Scharen tanzten. Sie waren sehr klein, ca. ¥2 m
groß. Diese können Menschen hinlegen, den Geist aus seinem Munde nehmen und nachher
wieder hineinpacken. Ihm haben sie noch nichts getan, daher er auch immer wieder erklärt:
das hat für mich keinen Wert.
Zahlreiche Gehörstäuschungen. Überall um die Klinik laufen Leute und rufen ihm etwas zu:
er müsse sein Schicksal tragen u. dgl. Er kann nur wenig vom Inhalt der Stimmen angeben.
Was der »Roman« eigentlich sei, ist bei ihm nicht zu einem vollendeten System geworden.
Wir stellen, da uns diese Seite der Symptome interessiert, weitere Äußerungen, die er darüber
im Laufe der Wochen gemacht hat, zusammen: Er erzählt: »Von Kindheit an habe ich büßen
müssen im Roman.« »Der Roman ist die Verwandlung von den Menschen, der größte Blöd-
sinn, der Unsinn.« Als er 7 Jahre alt war, hat er eine Schlacht erlebt, die dauerte 2 Stunden. Er
war auf einmal wieder in Mannheim und wußte nicht, wie er hingekommen war. Es war, als
ob er in einem anderen Körper stecke. Einmal sei er in den Neckar gefallen. Eine Frau habe ihn
gepackt und gerettet. »Das war nicht im Roman, das war persönlich.« Im Roman könne er
nichts machen, darum passe ihm die ganze Geschichte nicht. (Offenbar Gefühl des passiven
Erlebens.) In den Zuständen des Romans fühle er sich wohl anders, aber es sei keine Einbildung.
Er ist sehr ungehalten über die Dinge, redet von den »nichtsnutzigen Potentaten« im Roman.
Machen könnte er nichts dagegen. »Wenn ich was machen könnte, hätte ich mir ja geholfen.«
Im Roman sind die Menschen halb unsichtbar, nicht fest, man sieht sie nicht so genau. In einer
Zeichnung sucht er den Unterschied anzudeuten, indem er einen natürlichen Menschen mit
dickeren Strichen und schärferen Konturen, einen Menschen in der Verwandlung mit schwä-
cheren Bleistiftstrichen, verwaschen zeichnet. Im Roman ist ein Zehnpfennigstück kleiner, das
Portemonnaie auch kleiner. Die normalen Gegenstände bleiben, wie sie sind, nur die verwan-
delten sind kleiner. Über sein Verhalten sagt der Kranke, um die Menschen in der Verwand-
lung, die Stimmen usw. kümmere er sich nicht mehr. Er gebe nicht acht darauf, es habe ja kei-
nen Wert. Er könne nichts dagegen machen, und der Arzt könne auch nichts dagegen machen,
da müsse er sich abfinden. Hier in der Klinik sei es gerade wie draußen. Ein Mensch in der Ver-
wandlung habe ihm noch vor kurzem im Nacken gesessen. »Der Roman ist überall in Mann-
heim und sonst.« -
Die Intelligenz des Kranken ist gut. Er weiß über die jüngste Vergangenheit Bescheid, kann Aus-
kunft geben über den russisch-japanischen Krieg und andere Ereignisse. Er gibt verständige Urteile
ab und weiß sich mit jeder Frage irgendwie abzufinden. Auf die Behauptung, er sei blödsinnig:
»Blödsinn und Blödsinn ist wieder zweierlei.« Daß man ihm nicht zu glauben scheint, regt ihn sehr
auf: »Ich nehm’s zurück, wenn Sie’s nicht glauben, in meinem Sinn weiß ich, daß es wahr ist.«
Es ist unmöglich, aus diesem Bericht deutlich zu entnehmen, was bei dem Kran-
ken isolierte Trugwahrnehmungen, was Erlebnisse in Bewußtseinsveränderungen, was
Erinnerungsfälschungen, was echte Halluzinationen und was Pseudohalluzinationen
sind. Er war zu einer besseren Beschreibung und zu einer genaueren Zergliederung
nicht zu bringen. Wir sehen nur, daß er die Auffassung hat, daß gewisse natürliche
Menschen die Fähigkeit haben, in einer | anderen Wirklichkeit, in der »Verwandlung«,

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