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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0333
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

kranken und dann die Unterschiede betrachten. Wir lernen, daß es unmöglich ist, zum
sicheren Realitätsurteil in jedem Einzelfall zu kommen, wenn reale und subjektive Phä-
246 nomene so gut wie identisch in Form | und Inhalt sind. Wir lernen die Wege kennen,
die in den einfachen Verhältnissen des Versuchs beschritten wurden, um zum richti-
gen Urteil zu kommen. Wir sehen vielleicht auch bei einer Vp. den Keim zu dem Grau-
sen, das Kranke gegenüber echten Trugwahrnehmungen empfinden, wenn sie ihren
Sinnen nicht mehr trauen dürfen'.569 Diese Vp. (l.c. S. 519) erklärte nach Abschluß von
etwa 35 Beobachtungen, sie sei mißtrauisch geworden und habe ein unangenehmes
Gefühl, weil sie nicht wisse, wie ihr geschehe. Sie glaube nunmehr, es sei ihr überhaupt
bisher noch kein Reiz zur Beurteilung dargeboten.
Wir können die Versuche aber nicht benutzen, um weitere Schlüsse daraus zu zie-
hen. Dazu sind die Umstände doch gegenüber denen bei echten Trugwahrnehmun-
gen zu verschieden. Die subjektiven Phänomene sind hier die entoptischen, die durch
Mitgehen mit den Bewegungen des Auges und durch Bestehenbleiben bei Augen-
schluß relativ leicht kenntlich sind. Es handelt sich um inhaltlich ganz gleichgültige
Erscheinungen, die kaum den Charakter des Dinges, bloß den des Lichtscheins haben.
Wie die Nachbilder, kann man diese entoptischen Erscheinungen wohl einmal unter
gewissen Gesichtspunkten mit Trugwahrnehmungen vergleichen, aber kann sie mit
ihnen nicht identifizieren. Sie sind außer in der Leibhaftigkeit in fast allem von ech-
ten Trugwahrnehmungen, außerdem natürlich auch von Pseudohalluzinationen völ-
lig verschieden. Darum sind die Wege, auf denen sich das Realitätsurteil unter diesen
Bedingungen entwickelt, zwar wichtig und interessant, aber durchaus nicht erschöp-
fend für das Realitätsurteil überhaupt, das, wie wir sahen, noch durch ganz andere
Motive bestimmt werden und viel kompliziertere Wege einschlagen kann.
Unser doppelter Gegensatz Leibhaftigkeit-Bildhaftigkeit und richtiges-falsches Rea-
litätsurteil und der damit zusammenhängende der verstehenden und erklärenden
Methode muß sich schließlich noch bewähren gegenüber den Aufstellungen, die PiCKii57°
über das Realitätsurteil im Anschluß an Goldstein machte, indem er zu Gunsten einer
Auffassung Goldsteins bis dahin in der Psychiatrie unbekannte Versuche Strattons571
als experimentum crucis572 heranzog. Pick schildert diese Versuche auf folgende Weise:
Stratton suchte »nach einer Versuchsanordnung, durch die es vermittels vorgesetzter

i »Jede wirkliche Sinnestäuschung (wenn sie überhaupt als eine solche anerkannt wird, d.h. wenn
sie das Urteil nicht täuscht) wirkt im ersten Augenblick sowohl auf den Gesunden, wie auch auf
den Geisteskranken ungeheuer erschütternd, und dabei ganz unabhängig von dem Inhalte, allein
durch die Tatsache ihres Erscheinens selbst: bei einer solchen objektlosen Wahrnehmung, die
doch den Charakter der Objektivität trägt, fühlt sich der Mensch plötzlich am Rande eines Ab-
grundes, wo Schein und Sein einerlei sind, weil die einzigen Vermittler zwischen dem denkenden
Ich und der realen Welt, die Sinne, sich als hinterlistige Betrüger erweisen« (Kandinsky S. 56).
ü Pick, A., Bemerkungen über das Realitätsurteil von den Halluzinationen. Neurol. Centralbl. 1909,
66.
 
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