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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0338
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Zur Analyse der Trugwahrnehmungen

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der Arbeit nur zwei zum Realitätsurteil in Beziehung stehende Beobachtungen wieder.
Rose schreibt:
»In einem meiner ersten Versuche, wo ich nur eben das Gelbsehen kannte, ging mein Kol-
lege, als es verschwunden schien (d.h. als er sich daran gewöhnt hatte), zu Tisch in eine Restau-
ration. Der Versuch war beendet und vergessen; bei lebhafter Unterhaltung im Freundeskreise
bringt der Kellner die gelbe Eiersuppe. Sie roch ihm eigentümlich; auch sah sie ganz rot aus.
Empört wies er die verdorbene Suppe zurück. Zum Gelächter seiner Freunde blieb er hartnäckig
bei den ihnen unerklärlichen Behauptungen. Er kam darüber mit ihnen zum Wortwechsel und
mein hitziger Kollege verläßt entrüstet und ärgerlich die schlechte Wirtschaft. Kein Zweifel, daß
der Kellner ihn nicht für gescheit hielt. Jetzt wissen wir, daß sich in dieser Täuschung das erste
Zeichen einer Geruchshalluzination und von Violettsehen einstellte, von dem damals noch
niemand etwas ahnte. Auch kam der Kollege nicht darauf, da das Experiment abgelaufen schien
und ihm bei der lebhaften Unterhaltung auch nicht wieder einfieL«580
»Ein andermal kamen zwei Geschwister aus gebildeten Ständen, die beide nacheinander San-
tonsäure genommen, als sie dabei in einer Pause der Untersuchung von einer fremden Gesell-
schaft einen Besuch bekamen und das Gespräch zufällig sich auf den Rock eines Herrn gelenkt,
darüber in Streit. Die eine hielt denselben für gelbgefärbt, die andere meinte, es sei | ein schö-
nes violettes Tuch. Der Herr, dessen Rock grau war und der nichts davon wußte, daß diese vio-
lettsichtig, jene violettblind sich gemacht hatten, schaute verwundert darein. Auch sie hatten
im Gespräch die Ursache ihres Zwistes vergessen.«581
Würde man in diesen Fällen die Menschen an ihre Santonvergiftung erinnert und
ihnen die Erscheinungen daraus erklärt haben, würde sicher alsbald das falsche Reali-
tätsurteil verschwunden sein. Solche Erklärung in verbindlicher Form, wie in diesem
Falle, können wir aber z.B. dem Kranken Dr. Strauß nicht geben - wir wissen ja selbst
nicht, woher seine Sinnestäuschungen kommen. Nehmen wir noch die Fülle seiner
Trugwahrnehmungen und die besonderen Eigenschaften derselben hinzu, so erken-
nen wir, wie ungeheuer schwierig es sein muß, ihnen gegenüber zum richtigen Urteil
zu kommen. Diese Schwierigkeiten müssen wir ganz gegenwärtig haben und verste-
hen, wie weit man aus ihnen die Urteile des Kranken ableiten kann, bevor wir zur Kon-
statierung der paranoischen Bewußtseinsveränderung kommen. Falsches Urteil über
Sinnestäuschungen ist noch keine Paranoia.
Nicht den ganzen Inhalt unserer Arbeit, sondern nur die uns wichtigsten Thesen
fassen wir in folgenden Schlußsätzen zusammen:
1. Außer den echten Trugwahrnehmungen gibt es, ohne daß zwischen beiden
ein Übergang bestände, pathologische Vorstellungen, die detailliert und unabhängig
vom Willen sind (Pseudohalluzinationen Kandinskys).
2. Der Gegensatz der Leibhaftigkeit (Objektivitätscharakter) der echten Halluzina-
tionen und der Bildhaftigkeit (Subjektivitäts- oder Vorstellungscharakter) der Pseudohal-
luzinationen ist zu trennen von dem Gegensatz des richtigen und falschen Realitätsurteils.
Jener ist ein Unterschied der sinnlichen Phänomene, dieser ein Unterschied des Urteils
über solche sinnlichen Phänomene.

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