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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0344
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Die Trugwahrnehmungen

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Sinnen die imaginäre Umgebung zu empfinden glaubten, während eine aufmerksame
Beobachtung bald über den Ungrund einer solchen Annahme belehrt. Sie steigen leb-
haft deklamierend in der Zelle, im Saal oder auf dem Gange auf und ab und halten
Gespräche, meist zankenden Inhalts, mit eingebildeten Personen, in einer Weise, daß
man meinen sollte, sie sehen letztere wirklich vor sich oder hörten sie reden; wenn
man aber näher eingeht, so erkennt man bald, daß sie sich nur selbst Unterhaltung
machen, sich kitzeln, sich erfreuen an dem ihrer Meinung nach beredten Zanken, Aus-
schelten, dem sie sich jetzt so ganz hingeben. Oft ist aber auch eine solche Imagina-
tion bloß durch das Bedürfnis herbeigeführt, sich für die innerlich herrschende Zank-
und Streitsucht ein Objekt zu schaffen. Sie sehen wohl in einen Winkel oder auf den
Boden, als ob | jemand da versteckt wäre und schelten und zanken da hinein, aber sie
perorieren und lärmen auch sonst, ohne solche Gebärden« (Hagen S. 14),592 Es han-
delt sich hier überall nicht um Sinnestäuschungen, sondern um lebhafte Phantastereien,
die höchstens den Beobachter täuschen können.
c) Früher gehabte Vorstellungen und Phantasien, frühere Träume und ähnliches
werden gelegentlich für leibhafte Wahrnehmungen ausgegeben (Hagen S. 16 ff.).
Wenige Kranke suchen sich auch interessant zu machen, lügen hinzu und geben für
Sinnestäuschungen aus, was bloß Phantasterei war (Kandinsky S. 40).
d) Sehr nahe liegt die Verwechslung von Erinnerungsfälschungen mit Sinnestäu-
schungen. Nicht, wie im vorigen Falle, eine Vorstellung in der Erinnerung wird mit
einer Wahrnehmung verwechselt, sondern eine eben erst entstehende Vorstellung wird
für die Erinnerung einer gehabten Wahrnehmung gehalten (Hagen S. 19). Dies inter-
essante Symptom ist zum Gegenstand einer ausgedehnten Literatur geworden, die
nicht zu unserem Thema gehört.
Noch weitere Verwechslungen sind beschrieben. Zwei sehr wichtige unter ihnen,
die Verwechslung von Erlebnissen bei Bewußtseinstrübungen und die Verwechslung von
Pseudohalluzinationen (pathologischen Vorstellungen) mit Halluzinationen sind
bestritten: man hat behauptet, daß es sich hier überall um Halluzinationen handele.
Damit werden wir uns im weiteren noch eingehend abzugeben haben.
(Bewußtseinszustand und Sinnestäuschung.) Wenn wir uns klar werden wollen über
die Sinnestäuschungen, so müssen wir hier wie überall bei den seelischen Erscheinun-
gen einen Teil herausgreifen, für sich isoliert denken, obgleich er nur in engster Verflech-
tung mit und in mannigfaltiger Abhängigkeit von dem Gesamtstrom des bewußten
Lebens vorhanden ist. Wir dürfen aber darum nicht den Fehler machen, diese Isolie-
rung gleich zu Beginn für unsere Zwecke endgültig festzulegen und das übrige psychi-
sche Leben zu vergessen, sondern wir müssen die seelischen Vorgänge, zu denen die Sin-
nestäuschungen in Beziehung stehen, immer im Auge behalten, damit wir nicht ganz
verschiedene Dinge für dasselbe halten - etwa die Traumhalluzinationen und die Hal-
luzinationen des Paranoikers.

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