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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0349
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306

Die Trugwahrnehmungen

kommen, indem wir (genetische Betrachtung) alle aus äußeren Reizen stammenden
Elemente in der Wahrnehmung fortfallen lassen.
Bei der Schilderung der drei Gruppen reden wir vorwiegend, wenn auch nicht aus-
schließlich, von den Wahrnehmungen des Gesichtssinns. Dieser Sinn ist der differen-
zierteste, an ihm ist es möglich, die feinsten Unterschiede zu bemerken. Die Elemente
der Wahrnehmung sind bei ihm am deutlichsten getrennt*. Im weiteren Verlauf wird
dann das Besprochene der Ergänzung und Einschränkung bei der Übertragung auf die
niederen Sinne bedürfen.
Wenn wir nacherleben wollen, was die Kranken erleben, so gehen wir unwillkür-
lich und notwendigerweise von dem aus, was wir selbst erlebt haben. Wir verstehen
nur, soweit die Erscheinungen bei den Kranken als Steigerungen oder Herabminde-
rungen unserer normalen Erscheinungen oder in Analogie zu ihnen nachgebildet wer-
den können. Wir wollen uns darum bei der Schilderung der Illusionen, Pseudohallu-
zinationen und echten Halluzinationen jedesmal Phänomene der »normalen«
Psychologie vergegenwärtigen, die uns den Zugang zu den pathologischen Phänome-
nen leichter eröffnen.
Illusionen nennt man alle Wahrnehmungen, in denen sich äußere Sinnesreize mit
261 reproduzierten Elementen so zu einer Einheit verbinden, daß die | direkten von den
reproduzierten Empfindungselementen nicht unterscheidbar sind. Diese Angleichung
reproduktiver Elemente an die durch äußere Reize entstandenen nennt Wundt Assi-
milation.513 Unter der großen Menge hierhergehöriger Phänomene können wir drei
Typen unterscheiden:
1. Die experimentelle Untersuchung der Wahrnehmung hat ergeben, daß fast in
jede Wahrnehmung irgendwelche reproduzierte Elemente aufgenommen sind. Die
infolge sehr kurz dauernder Aufmerksamkeit spärlichen äußeren Sinnesreize werden
fast immer ergänzt. Man ergänzt z.B. beim Hören eines Vortrages sehr viel im Sinne des
Vorgetragenen und merkt diese Ergänzungen erst, wenn man sich einmal geirrt hat.
Man übersieht fast alle Druckfehler in einem Buche und ergänzt oder korrigiert sie rich-
tig im Sinne des Zusammenhangs. Alle diese Illusionen werden bei Hinlenkung der Auf-

Wir wenden hier ein Prinzip an, das für die Untersuchung seelischer Erscheinungen eigentümlich
ist und im Gegensatz zum Gebrauch bei der Bearbeitung physischer Phänomene steht. Am meisten
Aufschluß geben uns auf seelischem Gebiet die entwickelten Erscheinungen, die wir dann wieder in die
einfachsten Elemente zerlegen können. Tierpsychosen lassen sich nicht untersuchen, Psychosen
Schwachsinniger sind für den Psychopathologen armselig an Ausbeute. Am geeignetsten sind ihm die
Psychosen geistig hochstehender und zudem gebildeter Menschen. Ein Fall mit guter Selbstbeobach-
tung und Fähigkeit, sich mitzuteilen, kann ihn mehr lehren als hundert wenig intelligente und un-
gebildete Kranke, die gewöhnlich die Kliniken füllen. Die deutlichsten Unterscheidungen, die ihm
die Eigenart der einzelnen psychischen Erscheinungen bei solchen Fällen erst recht zum Bewußtsein
gebracht haben, befähigen ihn dann wohl, Schwachbegabte und ungebildete Kranke besser zu ver-
stehen, als sie selber sich beobachten können. So kann uns auch der Gesichtssinn als höchststehen-
der, differenziertester Sinn über die Sinnestäuschungen überhaupt die feinsten Analysen liefern.
 
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