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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0350
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Die Trugwahrnehmungen

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merksamkeit sofort verbessert. (Vgl. über sie Wundt, Ph. Ps. 3,528 ff. Beispiele von expe-
rimentell hervorgerufenen Illusionen bei Messer, Empfindung und Denken, S. 28 ff.)612
Von diesen Assimilationen sind natürlich die Ergänzungen der Wahrnehmung zu tren-
nen, die als reproduzierte deutlich unterscheidbar sind, z.B. die Vorstellung der abge-
wandten Seite des wahrgenommenen Hauses, die Vorstellung des süßen Geschmacks
bei der Gesichtswahrnehmung eines Stückes Zucker usw. Bei jenen illusionären Assi-
milationen sind die reproduzierten Empfindungselemente völlig identisch mit solchen,
die primär durch äußere Reize entstanden sind.
2. Mehr durch zufällige Beobachtungen als durch Experimente sind die Illusio-
nen bekannt, die aus Affekten entstehen, oft auch bei Fixierung der Aufmerksamkeit
stabil bleiben und nicht selten auch vor dem Urteil Realitätswert gewinnen. Bei einem
nächtlichen Gang im Walde z.B. wird irgendeine Naturform für eine menschliche
Gestalt gehalten.
3. Ohne Affekt, ohne Realitätsurteil, aber auch ohne daß die illusionären Gebilde
bei Aufmerksamkeit zu verschwinden brauchen, gestaltet die »aus unvollkommenen Sin-
neseindrücken produktive«613 Phantasie aus Wolken, aus alten Mauerflächen u. dgl. illu-
sionäre Gebilde von leibhaftiger Deutlichkeit. Joh. Müller schildert dies:
»Mich hat diese Plastizität der Phantasie in den Jahren der Kindheit oft geneckt. Eines erin-
nere ich mich am lebhaftesten. Durch die Fenster des Wohnzimmers im elterlichen Hause sah
ich auf ein Haus der Straße von etwas altem Ansehen, an dem der Kalk an manchen Stellen sehr
verschwärzt, an andern aber in vielgestaltigen Lappen abgefallen war, um hier eine ältere, auch
wohl älteste Farbenbekleidung durchsehen zu lassen. Wenn ich nun nicht über die Schwelle
durfte und gar manche Stunde des Tages am Fenster mit allerlei beschäftigt war, und durch das
Fenster sehend immer nur die rußige verfallene Wand des Nachbarhauses betrachtete, gelang
es mir, in den Umrissen des abgefallenen und stehengebliebenen Kalkes gar manche Gesich-
ter zu erkennen, die durch die oft wiederholte Betrachtung sogar einen ganz sprechenden Aus-
druck erhielten.« »Wenn ich nun die andern auch aufmerksam machen wollte, wie man doch
gezwungen sei, an dem verfallenen Kalk allerlei Gesichter zu sehen, sollte freilich niemand mir
recht geben, aber ich sah es doch ganz deutlich.« »In späteren Jahren wollte das nicht mehr
gelingen, und wiewohl ich meine Figuren noch ganz deutlich im Sinne hatte, so konnte ich
sie doch nicht mehr in den Umrissen wiederfinden, aus denen sie mir entstanden waren.« (S. 45
bis 46.)614
Lionardo da Vinci schreibt: »Wenn du in allerlei Gemäuer hineinschaust, das mit allerlei Flek-
ken beschmutzt ist, oder in Gestein von verschiedener Mischung, - hast du da irgendwelche
Szenerie zu erfinden, so wirst du dort Ähnlichkeiten mit diversen Landschaften finden, | die mit
Bergen geschmückt sind, Flüsse, Felsen, Bäume, Ebenen, große Täler und Hügel in wechselvol-
ler Art; auch wirst du dort allerlei Schlachten sehen und lebhafte Gebärden von Figuren, son-
derbare Physiognomien und Trachten und unendlich viele Dinge, die du auf eine vollkommene
und gute Form zurückbringen kannst.«615
Diese drei Typen sind nicht aus einem Gesichtspunkt in den Illusionen unterschie-
dene Arten, sondern sie sind nebeneinander gestellte Phänomene, die durch Über-

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