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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0353
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3io

Die Trugwahrnehmungen

Die Unterscheidung der intellektuellen Deutungen von den sinnlichen Illusionen (vgl.
oben S. 300) wurde schon von Kahlbaum und Hadlich620 gemacht, und später u.a. von
Liepmann als der Unterschied der sensoriellen und intellektuellen Illusionen betont.555 Wird
264 glänzendes Metall für Gold, der Arzt | für einen Staatsanwalt gehalten, so ändern solche
Auffassungen nichts am Vorgang der sinnlichen Wahrnehmung. Gleichbleibende Wahr-
nehmungsgegenstände werden nur falsch beurteilt. Schwieriger wird die Unterscheidung,
wenn die Gegenstände der Wahrnehmung selbst undeutlich sind. Ein ferner Vorsprung
am Berge wird als ein Häuschen oder als ein Felsblock aufgefaßt. Hier bleibt die Wahr-
nehmung selbst undeutlich. Aber mit dem Schwanken des Urteils kann auch sie schwan-
ken, indem einmal vorwiegend die Momente, die einem Häuschen entsprechen, ein
andermal die übrigen vorzugsweise wahrgenommen werden. Trotzdem wird man hier
wohl kaum von einer Illusion sprechen, da eigentlich neue Wahrnehmungselemente
nicht hinzutreten. Es schließen sich aber hier die Übergänge an Illusionen an.
Von prinzipieller Wichtigkeit ist die Unterscheidung der Illusionen von den funk-
tionellen Halluzinationen (Kahlbaum S. 6 ff.). Während in den Illusionen reale Wahr-
nehmungselemente enthalten sind, treten hier bei Gelegenheit von Sinneswahrnehmun-
gen, die als solche für sich bestehen bleiben, zugleich mit ihnen und neben ihnen
Halluzinationen auf, die mit dem Aufhören der Sinneswahrnehmung ebenfalls wieder
schwinden. Über diese Phänomene wird im Abschnitt über die Abhängigkeiten der Hal-
luzinationen näher gehandelt.
(Pseudohalluzinationen.) Wir behandelten in den Illusionen solche Wahrnehmungs-
erlebnisse, die sich in ihrem Empfindungsmaterial genetisch aus primären und sekun-
dären Elementen zusammensetzten. Wir fanden die Reihe dieser Erlebnisse, indem wir
von der normalen Wahrnehmung ausgingen und bis zur Pareidolie gelangten. Wir kön-
nen nun zweitens von der normalen Vorstellung ausgehen und diejenigen Erlebnisse
betrachten, die eine Reihe von Übergängen bis zu den Pseudohalluzinationen bilden,
indem die Vorstellungen immer mehr Merkmale bekommen, die gewöhnlich nur den
Wahrnehmungen eignen, ohne die Leibhaftigkeit der letzteren zu gewinnen.
Wahrnehmungen und Vorstellungen sind in vielen Beziehungen verschieden, aber
überall zeigen sich Übergänge. Nur in einer Beziehung besteht ein übergangsloser
Abgrund zwischen beiden: die Wahrnehmungen sind leibhaftig, die Vorstellungen sind
es nicht. Der Unterschied der Leibhaftigkeit der Wahrnehmungen und der Bildhaftigkeit
der Vorstellungen ist nicht zu verwechseln mit dem Gegensatz der richtigen und falschen
Realitätsurteile. Beide Gegensätze kreuzen sich1.621 Die Pseudohalluzinationen sind Vor-
stellungen, insofern sie nie Leibhaftigkeit besitzen.

Über alle diese Punkte handelt eingehend Jaspers.
 
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