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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0358
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Die Trugwahrnehmungen

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auf, so daß ich sie hätte greifen können.« - »Eine Thermometerkugel war gebrochen und die
Quecksilberkügelchen liefen am Tisch umher. Ebenfalls nach mehreren Stunden sah ich die
gleichen silberglänzenden Kugeln auf einem andern Tische liegen und rollen, und obwohl ich
nicht begreifen konnte, wieso sie hierher kamen, wollte ich sie doch sammeln und wegwischen.
Ich erstaunte, sie nicht fühlen zu können, und nach einiger Zeit verschwanden sie von selber.«639
Einen schönen Fall berichtet Todt.64° Eine Schwester hörte nach durchwachten Nächten
ganz leibhaftig das Stöhnen usw. des von ihr vorher gepflegten Patienten.
Die besondere Benennung dieser Phänomene als »Erscheinungen des Sinnenge-
dächtnisses« beruht auf ihrem gesonderten Vorkommen. Im übrigen gehören sie unter
den Begriff der halluzinatorischen Erinnerungen (siehe S. 349).
Die »phantastischen Gesichtserscheinungen« hat klassisch Joh. Müller geschildert.
Seine Selbstbeobachtungen sind so wichtig, daß ich sie in kurzem Auszug hierhersetze:
»Schlaflose Nächte wurden mir kürzer, wenn ich gleichsam wachend wandeln konnte unter
den eigenen Geschöpfen meines Auges. Wenn ich diese leuchtenden Bilder beobachten will,
sehe ich bei geschlossenen, vollkommen ausruhenden Augen in die Dunkelheit des Sehfeldes;
mit einem Gefühl der Abspannung und größten Ruhe in den Augenmuskeln versenke ich mich
ganz in die sinnliche Ruhe des Auges oder in die Dunkelheit des Sehfeldes. Allen Gedanken,
allem Urteil wehre ich ab ... Wenn nun am Anfang immer noch das dunkle Sehfeld an einzel-
nen Lichtflecken, Nebeln, wandelnden und wechselnden Farben reich ist, so erscheinen statt
dieser bald begrenzte Bilder von mannigfachen Gegenständen, anfangs in einem matten Schim-
mer, bald deutlicher. Daß sie wirklich leuchtend und manchmal auch farbig sind, daran ist kein
ZweifeL Sie bewegen sich, verwandeln sich, entstehen manchmal ganz zu den Seiten des Seh-
feldes mit einer Lebendigkeit und Deutlichkeit des Bildes, wie wir sonst nie so deutlich etwas
zur Seite des Sehfeldes sehen. Mit der leisesten Bewegung der Augen sind sie gewöhnlich ver-
schwunden, auch die Reflexion verscheucht sie auf der Stelle. Es sind selten bekannte Gestal-
ten, gewöhnlich sonderbare Figuren, Menschen, Tiere, die ich nie gesehen, erleuchtete Räume,
in denen ich noch nicht gewesen... Nicht in der Nacht allein, zu j eder Zeit des Tages bin ich die-
ser Erscheinungen fähig. Gar manche Stunde der Ruhe, vom Schlafe weit entfernt, hab ich mit
geschlossenen Augen zu ihrer Beobachtung zugebracht. Ich brauche mich oft nur hinzusetzen,
die Augen zu schließen, von allem zu abstrahieren, so erscheinen unwillkürlich diese seit frü-
her Jugend mir freundlich gewohnten Bilder... Häufig erscheint das lichte Bild im dunkeln Seh-
felde, häufig auch erhellt sich vor dem Erscheinen der einzelnen Bilder nach | und nach die Dun-
kelheit des Sehfeldes zu einer Art von innerem matten Tageslicht. Gleich darauf erscheinen
dann auch die Bilder. Ebenso merkwürdig als das Erscheinen der leuchtenden Bilder war mir,
seit ich diesen Phänomenen beobachtend folge, das allmähliche Hellerwerden des Sehfeldes.
Denn am Tage bei geschlossenen Augen nach und nach den lichten Tag von innen eintreten
sehen, und in dem Tag des Auges leuchtende Gestalten als Produkte des Eigenlebens des Sinnes
wandeln sehen, und alles dieses im wachenden Zustande, fern von allem Aberglauben, von aller
Schwärmerei, bei nüchterner Reflexion, ist dem Beobachter etwas höchst Wunderbares ... Ich
kann es auf das bestimmteste unterscheiden, in welchem Moment das Phantasma leuchtend
wird. Ich sitze lange da mit geschlossenen Augen; alles, was ich mir einbilden will, ist bloße Vor-
stellung, vorgestellte Begrenzung im dunkeln Sehfeld, es leuchtet nicht, es bewegt sich nicht
organisch im Sehfelde, auf einmal tritt der Moment der Sympathie zwischen dem Phantasti-

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