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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0359
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Die Trugwahrnehmungen

sehen und dem Lichtnerven ein, urplötzlich stehen Gestalten leuchtend da, ohne alle Anre-
gung durch die Vorstellung. Die Erscheinung ist urplötzlich, sie ist nie zuerst eingebildet, vor-
gestellt und dann leuchtend. Ich sehe nicht, was ich sehen möchte; ich kann mir nur gefallen
lassen, was ich ohne alle Anregung leuchtend sehen muß. Der kurzsichtige Einwurf, daß diese
Erscheinungen wie im Traume nur leuchtend vorgestellt oder, wie man sagt, eingebildet wer-
den, fällt hier natürlich von selbst weg. Ich kann stundenlang mir einbilden und vorstellen,
wenn die Disposition zur leuchtenden Erscheinung nicht da ist, nie wird dieses zuerst Vorge-
stellte den Schein der Lebendigkeit erhalten. Und urplötzlich erscheint ein Lichtes, nicht zuerst
Vorgestelltes gegen meinen Willen, ohne alle erkennbare Assoziation. Aber diese Erscheinung,
die ich selbst im wachenden Zustand leuchtend zu sehen fähig bin, leuchtet so gewiß, als der
Blitz leuchtet, den ich als subjektives Gesichtsphänomen durch Druck dem Auge entlocke.«641
(Vgl. Urbantschitsch,642 Silberer.)643
Joh. Müller trennt noch nicht das Augenschwarz, das zum objektiven Raum
Kandinskys gehört, von dem subjektiven Vorstellungsraum, in dem besonders viele
der sogenannten hypnagogen Phänomene als bloße Pseudohalluzinationen erschei-
nen. In seiner Darstellung fließen diese Dinge zusammen, aber gerade in den ange-
führten Stellen meint er wahrscheinlich immer die Phänomene im objektiven Augen-
schwarz, die in Andeutungen sehr häufig, in solcher vollendeten Ausbildung sehr
selten sind. Sehr viele Menschen können als phantastische Gesichtserscheinungen
geometrische Figuren, komplizierte leuchtende Linienmuster, Kreise, Lichtfunken,
Nebel u. dgl. sehen. Aus solchen Phänomenen entwickeln sich manchmal die kompli-
zierten Erscheinungen Joh. Müllers. Hierher gehört auch die berühmte Selbstschil-
derung Goethes644 (Müller S. 27). Külpe (S. 52b)645 beobachtete bei seinen Versuchs-
personen die Fähigkeit zu subjektiven Lichterscheinungen. Einige konnten willkürlich
bestimmte Farben, z.B. Blau oder Violett hervorrufen. Es zeigte sich bei diesen Fähig-
keiten ein Übungseinfluß. Phantastische, begrenzte Erscheinungen traten nicht auf.
Solche werden relativ häufig bei Nervösen beobachtet. Wilbrand und Saenger
berichten von Menschen mit nervöser Asthenopie. Vielen erscheinen sofort nach
Schluß der Augen Köpfe, Bilder, Landschaften. Manchmal traten diese Erscheinungen
nur beim Bücken auf.
Diesen Phänomenen, die alle bei »geistesgesunden« Individuen beobachtet wer-
den, schließen sich die echten Halluzinationen Geisteskranker deskriptiv unmittelbar
an. Wir werden diese im einzelnen noch genau kennen lernen und unterlassen es hier,
Beispiele aufzuzählen.
(Einwände gegen die Unterscheidung der Illusionen, Pseudohalluzinationen und Halluzi-
nationen.) Gegen die scharfe Trennung der Illusionen, der Pseudohalluzinationen und
der Halluzinationen sind mehrfach Bedenken erhoben worden. Daß zwischen den
270 Phänomenen große Unterschiede bestehen, daran | kann kein Zweifel sein, wohl aber
daran, ob diese in den genannten Begriffen richtig formuliert sind.
Bei der Kritik des Begriffs der Pseudohalluzinationen läuft ein Mißverständnis unter,
wenn man die Leibhaftigkeit der Illusionen und Halluzinationen als bejahendes Rea-
 
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