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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0384
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Die Trugwahrnehmungen

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Sehr unklar pflegt die Sachlage zu sein, wenn man von den Kranken über verworrenes Gerede
erfährt. Sie wissen bestimmt, daß sie etwas gehört haben, aber man kann durch Fragen nicht
erfahren, woher und in welcher Weise. Über diese Fälle wissen wir kaum mehr als Hagen, der
schreibt (S. /5):769
Was die Gehörshalluzinationen betrifft, so wissen bekanntlich viele Geisteskranke, die daran
leiden, uns durchaus nicht mit Bestimmtheit die anzugeben, die sie hören, obgleich sie sich im
allgemeinen über einen gewissen Sinn des Gehörten beschweren. Fragt man sie näher aus, so
heißt es entweder: »Sie wissen es ja schon« oder: »Es wird eben gesprochen, es ist ja immer so
ein Gesumm«. Offenbar hören sie verworrenes Geräusch, das für sie aber einen eigentümlichen
Eindruck macht, der sie nötigt, es auf sich zu beziehen, und in welches sie einen Sinn hineinle-
gen, welcher allein ihnen dann noch im Bewußtsein bleibt. Manche sagen auch selbst, daß ein-
zelne Worte, die sie hören, für sie ganze Sätze lediglich bedeuten.
Aus einer Selbstschilderung (Kieser770 S. 436 ff.):
Es ist so erstaunend als schrecklich und für mich erniedrigend, welch akustische Übungen und
Experimente - auch musikalische - mit meinen Ohren und mit meinem Leibe seit beinahe zwan-
zig Jahren gemacht wurden!... Ein und dasselbe Wort ertönte oft ohne alle | Unterbrechung 2 bis
3 Stunden lang! Man hörte dann auch lang fortgesetzte Reden über mich mehrenteils schimpfli-
chen Inhalts, wobei oft die Stimme mir wohlbekannter Personen nachgeahmt wurde: die Vor-
träge enthielten aber stets wenig Wahrheit und mehrenteils die allerschändlichsten Lügen und
Verleumdungen meiner Person und oft auch anderer. Oft wurde dazu promulgiert, daß ich es sei,
der dies alles sage ... Die Schurken wollten dabei auch noch Kurzweil machen, bedienten sich bei
ihren Bekanntmachungen und Nachrichten der Onomatopoeie, der Paranomasie und anderer
Redefiguren, und stellen ein redendes Perpetuum mobile dar. Diese unablässig fortwährenden
Töne werden oft nur in der Nähe, oft aber eine halbe, ja eine ganze Stunde weit gehört. Sie wer-
den aus meinem Körper gleichsam abgeschnellt und abgeschossen und das mannigfachste
Geräusch und Getöse wird herumgeschleudert, besonders wenn ich in ein Haus trete oder in ein
Dorf oder in eine Stadt komme, daher ich seit mehreren Jahren beinahe wie ein Einsiedler lebe.
Dabei klingen mir die Ohren fast unaufhörlich und oft so stark, daß es ziemlich weit hörbar ist.
In Sonderheit wird in den Wäldern und Gesträuchen hauptsächlich bei windigem und stürmi-
schem Wetter, ein oft entsetzlicher dämonisch-scheinender Spuk erregt, auch jeder einzeln ste-
hende Baum wird bei meiner Annäherung, selbst bei stillem Wetter, zu einigem Rauschen und
Ertönenlassen von Worten und Redensarten gebracht. Ein Gleiches geschieht mit dem Gewässer,
wie denn überhaupt alle Elemente zu meiner Pein angewendet werden!771
Sehr merkwürdig ist manchmal die Lokalisation der Gehörstäuschungen. Norma-
lerweise hören wir alles von außen, nur unter Wasser, wenn die äußeren Gehörgänge
luftleer sind, klingt alles im Kopf. Die Kranken hören ihre Halluzinationen auch z.T.
von außen, sie lokalisieren sie aber oft in ihren Körper, hören Stimmen unter der Schä-
deldecke, im Bauche, aus dem Kopfe, aus dem Fuß usw. Die von außen kommenden
schwirren manchmal um die Ohren ohne feste Lokalisation. Oft werden sie an
bestimmte Stellen lokalisiert: sie hören die Menschen, die drüben auf dem Felde arbei-
ten, über sich schelten, oder sie hören die Stimmen von einer Ecke des Zimmers, aus
bestimmten Möbeln, ferner von den Schuhsohlen der herumgehenden Menschen her,
aus dem laufenden Wasser, aus der tickenden Uhr.

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