Die Trugwahrnehmungen
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Wir können zu allem dem nur sagen, daß man von jenen zugeordneten funktionell-
somatischen Vorgängen nichts weiß und nicht weiß, wie man sie finden könnte; daß man
eine Reihe wichtiger psychologischer Unterscheidungen besitzt, die dadurch nicht an
Wert gewinnen, daß man sie an erfundene somatische Vorgänge bindet; schließlich
daß solche theoretischen Erwägungen immer für einige Fälle ganz plausibel sind, aber
nie für alle passen.
Mit den letzten der theoretischen Vorstellungen sind wir schon auf das Gebiet des
Psychischen gelangt. Hier hat man eine Reihe unklarer oder falscher Vorstellungen über
die Ursachen der Halluzinationen entwickelt, wie »Steigerung der Einbildungskraft«,
»Mangel an Kritik«, »partieller Traumzustand«, »Einengung des Bewußtseins«, »Urteils-
täuschung« usw., die wir nicht eingehender behandeln wollen. Nur zwei Gedanken-
gänge bedürfen wenigstens einer kurzen Erwähnung, die von Lipps und von Freud.
Lipps799 meint, daß in jeder Vorstellung die Tendenz liegt, in volles Erleben überzu-
gehen, d.h. daß jede Vorstellung die Tendenz hat, Empfindung, Wahrnehmung zu wer-
den. Diese Tendenz wird normalerweise durch Gegentendenzen gehemmt. Fallen diese
aber weg, so wird die Vorstellung volles Erleben, wird sie Halluzination. Der Wegfall der
Gegentendenzen geschieht z.B. durch Erwartung oder durch Suggestion, oder durch
affektive Betonung der Tendenz usw. So erklären sich nach ihm die Sinnestäuschungen.
| Beschäftigt Lipps sich ganz allgemein mit der Frage des Zustandekommens der
Halluzinationen, so Freud,552 dessen Gedankengänge mit denen von Lipps zum Teil
sehr verwandt sind, vorwiegend mit der Frage, wie der besondere Inhalt der Halluzina-
tionen entsteht. Er ist der Ansicht, daß die Halluzinationen der Hysterie, der Paranoia,
die Visionen geistesgesunder Personen ebenso wie die Traumvorstellungen »Regres-
sionen« entsprechen, d.h. in Bilder verwandelte Gedanken sind, und daß nur solche
Gedanken diese Verwandlung erfahren, welche mit unterdrückten oder unbewußt
gebliebenen Erinnerungen im intimen Zusammenhang stehen.
Das Rätsel, dessen Aufklärung Freuds Gedanken dienen sollen, ist die Auswahl der
besonderen Inhalte im Einzelfall. Warum hört der Kranke gerade diese Stimmen?
warum nicht andere Stimmen, oder Musik oder elementare Geräusche? Warum sieht
er gerade einen roten Kopf mit grünen Augen, warum nicht blaue Augen oder Land-
schaften? Freuds unbewußte Vorgänge bringen Zusammenhang in diese rätselhaften
Inhalte und machen jeden einzelnen verständlich. Demgegenüber kann die somati-
sche Theorie hier wieder nur ärmlich ihre den psychischen Vorgängen zugeordneten
somatischen Vorgänge verwerten. Sie sagt, ein Reiz trifft einen funktionellen Zusam-
menhang von Wahrnehmungsresiduen, ein »Merksystem« (Hirth).800 Indem theore-
tisch die »spezifische Energie der Sinneselemente auf das ganze Assoziationssystem
übertragen wird« (Wernicke),801 erklärt sich der besondere Inhalt aus den zufälligen
Angriffspunkten eines beliebigen Reizes (vgl. Goldstein S. 1042).
Wir haben schon genug des Theoretischen gebracht, ohne allerdings einer Voll-
ständigkeit auch nur nahe zu sein. In den zahllosen theoretischen Entwicklungen
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Wir können zu allem dem nur sagen, daß man von jenen zugeordneten funktionell-
somatischen Vorgängen nichts weiß und nicht weiß, wie man sie finden könnte; daß man
eine Reihe wichtiger psychologischer Unterscheidungen besitzt, die dadurch nicht an
Wert gewinnen, daß man sie an erfundene somatische Vorgänge bindet; schließlich
daß solche theoretischen Erwägungen immer für einige Fälle ganz plausibel sind, aber
nie für alle passen.
Mit den letzten der theoretischen Vorstellungen sind wir schon auf das Gebiet des
Psychischen gelangt. Hier hat man eine Reihe unklarer oder falscher Vorstellungen über
die Ursachen der Halluzinationen entwickelt, wie »Steigerung der Einbildungskraft«,
»Mangel an Kritik«, »partieller Traumzustand«, »Einengung des Bewußtseins«, »Urteils-
täuschung« usw., die wir nicht eingehender behandeln wollen. Nur zwei Gedanken-
gänge bedürfen wenigstens einer kurzen Erwähnung, die von Lipps und von Freud.
Lipps799 meint, daß in jeder Vorstellung die Tendenz liegt, in volles Erleben überzu-
gehen, d.h. daß jede Vorstellung die Tendenz hat, Empfindung, Wahrnehmung zu wer-
den. Diese Tendenz wird normalerweise durch Gegentendenzen gehemmt. Fallen diese
aber weg, so wird die Vorstellung volles Erleben, wird sie Halluzination. Der Wegfall der
Gegentendenzen geschieht z.B. durch Erwartung oder durch Suggestion, oder durch
affektive Betonung der Tendenz usw. So erklären sich nach ihm die Sinnestäuschungen.
| Beschäftigt Lipps sich ganz allgemein mit der Frage des Zustandekommens der
Halluzinationen, so Freud,552 dessen Gedankengänge mit denen von Lipps zum Teil
sehr verwandt sind, vorwiegend mit der Frage, wie der besondere Inhalt der Halluzina-
tionen entsteht. Er ist der Ansicht, daß die Halluzinationen der Hysterie, der Paranoia,
die Visionen geistesgesunder Personen ebenso wie die Traumvorstellungen »Regres-
sionen« entsprechen, d.h. in Bilder verwandelte Gedanken sind, und daß nur solche
Gedanken diese Verwandlung erfahren, welche mit unterdrückten oder unbewußt
gebliebenen Erinnerungen im intimen Zusammenhang stehen.
Das Rätsel, dessen Aufklärung Freuds Gedanken dienen sollen, ist die Auswahl der
besonderen Inhalte im Einzelfall. Warum hört der Kranke gerade diese Stimmen?
warum nicht andere Stimmen, oder Musik oder elementare Geräusche? Warum sieht
er gerade einen roten Kopf mit grünen Augen, warum nicht blaue Augen oder Land-
schaften? Freuds unbewußte Vorgänge bringen Zusammenhang in diese rätselhaften
Inhalte und machen jeden einzelnen verständlich. Demgegenüber kann die somati-
sche Theorie hier wieder nur ärmlich ihre den psychischen Vorgängen zugeordneten
somatischen Vorgänge verwerten. Sie sagt, ein Reiz trifft einen funktionellen Zusam-
menhang von Wahrnehmungsresiduen, ein »Merksystem« (Hirth).800 Indem theore-
tisch die »spezifische Energie der Sinneselemente auf das ganze Assoziationssystem
übertragen wird« (Wernicke),801 erklärt sich der besondere Inhalt aus den zufälligen
Angriffspunkten eines beliebigen Reizes (vgl. Goldstein S. 1042).
Wir haben schon genug des Theoretischen gebracht, ohne allerdings einer Voll-
ständigkeit auch nur nahe zu sein. In den zahllosen theoretischen Entwicklungen
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