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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0413
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Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie

nes Erleben bleibt, nicht bewußte Kenntnis wird. Er gewinnt wohl Übung im Verste-
hen aber keine Sammlung bewußter Erfahrungen, die er klarer als in vagen Eindrücken
und »Gefühlen« vergleichen kann, die er ordnet, festlegt, zur Prüfung hergibt.
Diese Einstellung im bloß miterlebenden Verstehen, die für die einzelne Persön-
lichkeit ungeheuer befriedigend, ja je nach Veranlagung letzter Zweck des ganzen
Berufs sein kann, ist nun allerdings in besonderem Sinne subjektiv. Und wenn aus sol-
chem Gesamtverstehen heraus ohne weitere Zurückführung, ohne feste regelmäßige
317 Begriffe dann einzelne Behauptungen aufgestellt oder | Formulierungen gegeben werden,
so muß solchen allerdings im tadelnden Sinne die Benennung des »nur« Subjektiven
gegeben werden. Denn sie sind nicht diskutierbar und nicht nachprüfbar. Können wir
daher dieses Verstehen zwar wegen der darin sich zeigenden menschlich wertvollen
Begabungen sehr hoch schätzen, so können wir es doch niemals Wissenschaft nen-
nen, weder das in sublimierter Form vor sich gehende Verstehen, wie es unter Men-
schen kultivierter Kreise seit Jahrhunderten geübt wird, noch das begriffslose Versen-
ken des mitfühlenden Psychiaters.
Wenn demgegenüber sich noch eine psychologische Wissenschaft entwickeln will,
so muß sie sich von vornherein klar sein, daß sie sich zwar als Ideal das völlig bewußt
gewordene, in festen Formen darstellbare Verstehen des Seelischen aufstellt, das unbe-
wußt, vage, nur persönlich und subjektiv jene eben geschilderte Einstellung bei dazu
begabten Menschen erreicht; sie muß sich klar sein, daß sie aber diesem Ideal nicht
entfernt entsprechen kann, sondern in Anfängen befangen ist, die ihr wohl Aussich-
ten eröffnen, für die aber ein solches Ideal in der Unendlichkeit liegt. Daher kommt
es, daß viele ihr persönliches Verstehen zu eigener Befriedigung allein üben, und vom
Standpunkt ihres wenn auch vagen, doch umfassenden Eindringens über die Versu-
che bewußter psychologischer Festlegung von Begriffen als harmlose Flachheiten und
Trivialitäten lächeln*. Daß es sich nur bei den bewußten psychologischen Festlegun-
gen um Wissen handelt, gibt diesen vom wissenschaftlichen Standpunkt - aber auch
nur von diesem - den alleinigen Wert.
Diese Einstellung nun, die nicht beim verstehenden Erleben bleiben, sondern zu
einem mitteilbaren, nachprüfbaren, diskutierbaren Wissen kommen will, sieht vor sich
eine Unendlichkeit höchst mannigfaltiger seelischer Phänomene, in denen noch
durchaus unklare Zusammenhänge walten, die ihre noch zu findenden Abhängigkei-
ten und Folgen haben. Der erste Schritt zum wissenschaftlichen Erfassen - das muß
doch zweifellos sein - ist hier ein Aussondern, Begrenzen, Unterscheiden und Beschrei-
ben bestimmter seelischer Phänomene, die dadurch klar vergegenwärtigt und mit einem

Daß sich Psychologen Trivialitäten massenhaft haben zuschulden kommen lassen, ist nicht zu
leugnen. Ebensowenig ist zu leugnen, daß an Stelle einer auf planmäßiger Phänomenologie ge-
gründeten Wissenschaft sich manchmal eine Pseudopsychologie etabliert; der Inhalt jenes per-
sönlichen und, vom Standpunkt der Mitteilbarkeit aus gesehen, vagen Verstehens wird einfach
statt in vernünftigem Deutsch in ebensowenig präzisen, aber gelehrten Ausdrücken dargestellt.
 
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