Metadaten

Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0414
Lizenz: Freier Zugang - alle Rechte vorbehalten
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie

371

bestimmten Ausdruck regelmäßig benannt werden. Vergegenwärtigung dessen, was im
Kranken wirklich vorgeht, was er eigentlich erlebt, wie ihm etwas im Bewußtsein gege-
ben ist, wie ihm zumute ist usw. ist der Anfang, bei dem zunächst von Zusammenhän-
gen, vom Erleben als Ganzem, erst recht von Hinzugedachtem, zugrunde liegend
Gedachtem, theoretischen Vorstellungen ganz abzusehen ist. Nur das wirklich im
Bewußtsein Vorhandene soll vergegenwärtigt werden, alles nicht wirklich im Bewußt-
sein Gegebene ist nicht vorhanden. Wir müssen alle überkommenen Theorien, psy-
chologische Konstruktionen oder materialistische Mythologien von Hirnvorgängen
beiseite lassen, wir müssen uns rein dem zuwenden, was wir in seinem wirklichen
Dasein verstehen, erfassen, unterscheiden und beschreiben können. Dies ist eine, wie
die Erfahrung lehrt, sehr | schwierige Aufgabe. Diese eigentümliche phänomenologi- 318
sehe Vorurteilslosigkeit ist nicht ursprünglicher Besitz, sondern mühsamer Erwerb
nach langer kritischer Arbeit und oft vergeblichen Bemühungen in Konstruktionen
und Mythologien. Wie wir als Kinder die Dinge zuerst zeichnen, nicht so wie wir sie
sehen, sondern so wie wir sie denken, ebenso gehen wir als Psychologen und Psycho-
pathologen durch eine Stufe, in der wir uns das Psychische irgendwie denken, zur vor-
urteilslosen unmittelbaren Erfassung des Psychischen so wie es ist. Und es ist eine
immer neue Mühe und ein immer von neuem durch Überwindung der Vorurteile zu
erwerbendes Gut: diese phänomenologische Einstellung.
Wie machen wir es nun, wenn wir seelische Phänomene isolieren, charakterisieren und
begrifflich festlegen? Wir können seelische Phänomene nicht abbilden, nicht durch
irgend etwas sinnlich Wahrnehmbares vor Augen stellen. Wir können uns selbst und
andere nur von allen Seiten hinleiten, dieses Bestimmte sich zu vergegenwärtigen. Die
Genese, die Bedingungen und Konstellationen, unter denen dieses Phänomen auftritt,
die Zusammenhänge, in denen es da zu sein pflegt, die gegenständlichen Inhalte, die
es vielleicht hat, ferner anschauliche Vergleiche und Symbolisierungen, eine Art sug-
gestiver, von Künstlern am eindringlichsten erreichter Hinlenkung, Aufzeigung von
schon vorher bekannten Phänomenen, die als Elemente des Gegenwärtigen eine Rolle
spielen usw., müssen von außen her zu dem eigentlich gemeinten seelischen Phäno-
men leiten. Es ist ein durch alle diese Hinleitungen verstärkter Appell an den anderen und,
bei späterer Benutzung unserer Feststellungen, an uns selbst, sich die gemeinten Phä-
nomene zu vergegenwärtigen. Je zahlreicher und spezieller die Hinleitungen sind,
desto sicherer muß es ein bestimmtes, charakteristisches Phänomen sein, das hier
gemeint ist. Diese selbständige Vergegenwärtigung psychologischer Dinge an der Hand
der immer äußerlichen Hinweise ist die Bedingung, unter der allein überhaupt irgend-
eine Arbeit über Psychologisches verstanden werden kann.
Wie der Histologe die eigentümlichen morphologischen Elemente zwar eingehend
beschreibt, aber doch nur so, daß jeder andere alsdann es leichter hat, sie selbst zu sehen,
und wie der Histologe bei denen, die ihn wirklich verstehen wollen, dieses Selbstsehen
voraussetzen oder herbeiführen muß, so kann auch der Phänomenologe wohl vielerlei
 
Annotationen
© Heidelberger Akademie der Wissenschaften