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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0415
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372

Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie

Merkmale, Unterscheidungen, Verwechslungen angeben, um die qualitativ eigentüm-
lichen, psychischen Gegebenheiten zu beschreiben. Aber er muß darauf rechnen, daß
die anderen nicht bloß mitdenken, sondern daß sie in Umgang und Unterhaltung mit
Kranken und in eigener Vergegenwärtigung mitsehen. Dieses Sehen ist kein sinnliches,
sondern ein verstehendes. Man muß dieses ganz eigentümliche, unreduzierbare Letzte,
dieses sich »zur Gegebenheit bringen«, »verstehen«, »erfassen«, »erschauen«, »sich ver-
gegenwärtigen« üben und begriffen haben, um auch nur einen Schritt in der Phäno-
menologie vorwärts zu tun. Nur so kann man fruchtbare Kritik sich erwerben, die sich
sowohl gegen Konstruktionen, wie gegen das unfruchtbare, ertötende Leugnen jeder
Möglichkeit eines Fortschritts wendet. Wer keine Augen hat zu sehen, kann keine Histo-
logie treiben; wer sich sträubt oder unbegabt ist, sich Seelisches zu vergegenwärtigen
und lebendig zu schauen, kann keine Phänomenologie begreifen.
319 | Diese letzte, unreduzierbare Qualität seelischer Phänomene, die nur durch jenen
Appell unter mannigfachen Hinleitungen von vielen identisch gemeint werden kann,
liegt schon bei den einfachsten Sinnesqualitäten, z.B. blau, rot, Farbe, Ton, wie bei
Raumanschauung, Gegenstandsbewußtsein, Wahrnehmung, Vorstellung, Gedanke
usw. vor. Wir haben sie auf dem Gebiet der Psychopathologie z.B. bei den Pseudohal-
luzinationen, dem dejä vu, der Entfremdung der Wahrnehmungswelt, dem Erleben der
eigenen Verdoppelung, der Depersonalisation usw., wobei allerdings alle diese Namen
nur eine Gruppe unter sich noch wieder nach Nuancen verschiedener seelischer Phä-
nomene benennen.
Für die Vergegenwärtigung all dieser phänomenologisch letzten Qualitäten haben
wir schon mehrfach Ausdrücke wie sehen, schauen, ein fühlen, verstehen u. dgl. gebraucht.
Mit all diesen Ausdrücken ist dasselbe letzte, unsere Begriffe erst erfüllende Erlebnis ver-
standen, das auf dem psychologischen Gebiete dasselbe ist, wie auf naturwissenschaft-
lichem die sinnliche Wahrnehmung. Wie diese sinnliche Wahrnehmung durch
Demonstration eines Objekts wachgerufen wird, so jene verstehende, einfühlende Ver-
gegenwärtigung durch die genannten Hinleitungen, das unmittelbare Erfassen der
Ausdrucksphänomene, das Versenken in Selbstschilderungen. Aus dieser Ausdrucks-
weise ergibt sich schon, daß Einfühlung und Verstehen noch nicht ein einfaches letz-
tes Phänomen sind, sondern wohl noch eine Reihe zu unterscheidender Tatbestände
in sich enthalten. Wie die Wahrnehmung gibt diese Einfühlung zunächst selbst der
Phänomenologie, deren Grundlage sie ist, eine Aufgabe, dann der genetischen Unter-
suchung'.809 Beide interessieren uns an dieser Stelle nicht. Wir haben hier nur diese
Erfüllung unseres Wissens in den einfühlenden und verstehenden Erlebnissen zu kon-
statieren und die Frage der Sicherheit dieser Art, in der uns Tatsachen zugänglich sind,

Die gesamte Literatur zur Einfühlung und zum Verstehen ist durch das klärende Referat Geigers
leicht aufzufinden: Über das Wesen und die Bedeutung der Einfühlung, Bericht über den IV. Kon-
greß für experim. Psychol. 1910.
 
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