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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0423
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38o

Die phänomenologische Forschungsrichtung in der Psychopathologie

Wir haben, wenn auch nur in den größten Zügen, Ziel und Methode der Phänome-
nologie dargelegt, der Phänomenologie, die zwar immer getrieben wurde, aber nie recht
zu einer hemmungslosen Entwicklung kam. Da ihre Vermischung mit anderen For-
schungsaufgaben immer ihr Hauptschaden war, wollen wir noch einmal kurz aufzäh-
len, was die Phänomenologie nicht will, und womit sie nicht verwechselt werden darf.
Die Phänomenologie hat es nur mit wirklich Erlebtem, nur mit Anschaulichem zu
tun, nicht mit irgendwelchen Dingen, die dem Seelischen zugrunde liegend gedacht, die
theoretisch konstruiert werden. Bei allen ihren Feststellungen muß sie sich fragen: wird
dies auch wirklich erlebt? Ist dies auch wirklich im Bewußtsein gegeben? Ihre Feststel-
lungen haben dadurch ihre Sicherheit, daß die Vergegenwärtigung seelischer Wirklich-
keit immer wieder gelingt, sie können nur dadurch widerlegt werden, daß die bisher
falsch vergegenwärtigten Tatbestände richtig vergegenwärtigt werden, nicht dadurch,
daß aus irgendwelchen theoretischen Sätzen die Unmöglichkeit oder die Andersheit
dargetan wird. Phänomenologie kann durch Theorie nichts gewinnen, höchstens ver-
lieren. Die Richtigkeit der einzelnen Vergegenwärtigung ist nicht nach allgemeinen
Kriterien zu kontrollieren. Sie muß ihren Maßstab immer in sich selbst finden.
Die Phänomenologie hat es mit dem wirklich Erlebten zu tun. Sie sieht das Seeli-
sche »von innen« in unmittelbarer Vergegenwärtigung an. Sie hat es daher nicht mit
der Untersuchung der nach außen tretenden Erscheinungen, den motorischen Phänome-
nen, den Ausdrucksbewegungen als solchen, den objektiven Teistungen zu tun. Inwie-
fern Ausdrucksbewegungen und Selbstschilderungen nicht Gegenstand, aber Mittel
der Phänomenologie sind, wurde oben dargelegt.
Die Phänomenologie hat es ferner nicht zn tun mit der Genese seelischer Phänomene.
Sie ist nur Vorbedingung für solche genetische Untersuchung, läßt sie selbst aber noch
ganz beiseite und kann durch sie nicht widerlegt und nicht gefördert werden. Die
Untersuchung der Entstehung der Farben, der Wahrnehmungen usw. ist der Phänome-
nologie fremd. Ganz besonders gefährlich sind ihr weniger solche tatsächlichen gene-
tischen Untersuchungen als die »Hirnmythologien«813 gewesen, die die Phänomenolo-
gie interpretierten und ersetzten durch Konstruktionen von physiologischen und
pathologischen Hirnvorgängen. Wernicke,361 der bedeutende phänomenologische
Feststellungen gemacht hat, hat diese mit solchen Interpretationen durch Assozia-
tionsfasern,814 Sejunktion815 u. dgl. entstellt. Diese Konstruktionen pflegen phänome-
nologische Untersuchungen nicht ans Ende kommen zu lassen. Sie müssen zwar im
Anfang notgedrungen Phänomenologie treiben, aber wenn sie dann bei ihrer Theorie
angelangt sind, fühlen sie sicheren Boden und finden Phänomenologisches in merk-
würdiger Verkennung ihrer eigenen Quellen »subjektiv«.
327 | Schließlich ist phänomenologische Betrachtung auch zu trennen von genetischem
Verstehen seelischer Vorgänge, diesem eigenartigen, nur auf Seelisches anwendbarem
Verstehen, für das Seelisches aus Seelischem mit Evidenz »hervorgeht«, für das es
selbstverständlich ist, daß der Angegriffene zornig, der betrogene Liebhaber eifersüch-
 
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