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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0430
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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des verständlichen Zusammenhangs zwischen Brotpreis und Diebstahl konstatiert.
Die Häufigkeit des verständlichen Zusammenhangs zwischen Herbstwitterung und
Selbstmord ist durch die Selbstmordkurve, die im Frühjahr am höchsten ist, gar nicht
bestätigt, darum ist aber der verständliche Zusammenhang nicht falsch. Ein wirklicher
Fall kann uns Anlaß werden zum Begreifen eines verständlichen Zusammenhangs, die
Häufigkeit tut dann zur Vermehrung der einmal gewonnenen Evidenz nichts hinzu.
Ihre Feststellung dient ganz anderen Interessen. Im Prinzip ist es durchaus denkbar,
daß etwa ein Dichter verständliche Zusammenhänge überzeugend darstellt, die noch
niemals vorgekommen sind. Sie sind unwirklich, besitzen aber ihre generelle Evidenz in
idealtypischem Sinne.
6. Grenzendes Verstehens, Unbeschränktheit des Erklärens. Der naheliegende Gedanke,
das Psychische sei das Gebiet des Verstehens, das Physische das Gebiet des kausalen
Erklärens, ist falsch. Es gibt keinen realen Vorgang, | sei er physischer oder psychischer
Natur, der nicht im Prinzip kausaler Erklärung zugänglich wäre; auch die psychischen
Vorgänge können kausaler Erklärung unterworfen werden. Diese kausale Erklärung
hat z.B. schon erfolgreich angefangen zu arbeiten in den psychophysiologischen
Untersuchungen über das Zustandekommen der Sinneswahrnehmung, in den Entdek-
kungen über die Abhängigkeit der Sprachfunktion von bestimmten Hirnzentren usw.
Auch eine Folge psychischer Zustände, deren jeder für sich natürlich phänomenolo-
gisch (statisch) verstanden sein muß, könnte im Prinzip kausal erklärt werden. Es ist
nicht widersinnig zu denken, daß man einmal nach irgendwelchen Regeln das Auf-
einanderfolgen verständlich zusammengehöriger Denkakte kausal erklären könnte,
ohne den verständlichen Zusammenhang zu beachten. Hier würde die Verständlich-
keit des Zusammenhangs jener psychischen Vorgänge dann ebenso gleichgültig und
zufällig für die kausale Erklärung sein, wie in einem andern Fall die Unverständlich-
keit. Es ist also im Prinzip nicht widersinnig, denselben realen psychischen Vorgang
sowohl zu verstehen, wie zu erklären. Nur sind die beiden gefundenen Zusammen-
hänge von ganz verschiedener Herkunft und ganz verschiedener Art der Geltung. Sie
helfen sich gegenseitig nicht im geringsten. Die Erklärung macht den Zusammenhang
nicht verständlicher, das Verständnis macht ihn nicht erklärter. Jedes, das Verstehen
wie das Erklären, bedeutet dem andern gegenüber etwas Neues*. Tatsächlich ist übri-
gens kein Vorgang bekannt, der in diesem Sinne sowohl verstanden wie erklärt werden
könnte. Die Auffindung eines solchen Vorganges ist ein in der Unendlichkeit liegen-
des Problem. Etwas ganz anderes ist es, daß bei fast allen psychologischen Untersu-
chungen das Verstehen und Erklären Zusammengehen. Diese Kombination der Metho-
den ist unentbehrlich für die Psychologie, aber in keinem Falle treffen das Verstehen
und das Erklären von verschiedenen Seiten her denselben realen Teil des komplexen
seelischen Vorgangs.

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Diese Dinge setzt überzeugend Max Weber auseinander, l.c.
 
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