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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0440
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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chosen nur auf unlustvolle Erlebnisse eintreten, daß dagegen ein lustvolles Erlebnis -
wenn auch sehr selten - durch die damit verbundene Gleichgewichtserschütterung
wohl Anlaß für den Ausbruch eines sonstwie verursachten Krankheitszustandes sein
kann. | So klagen Psychasthenische wohl über eine Vermehrung ihrer Beschwerden
nach stark erfreuenden Eindrücken, über den eintretenden »Rückschlag«. Solche
Beschwerden haben dann nichts mit dem Inhalt des Erlebnisses zu tun. Die nur aus-
gelösten Psychosen sind von derselben Wesensart, wie die spontan entstehenden,
seien es Prozesse oder vorübergehende Phasen. Bei spontanen Psychosen beobachtet
man ein primäres, nur körperlich zu erklärendes Wachsen der Krankheit, ohne Bezie-
hung zum persönlichen Schicksal und Erleben des Kranken, mit zufälligem Inhalt. Bei
heilbaren Phasen besteht nachher die Tendenz, die Krankheit klar zu erkennen und
ihr als etwas gänzlich Fremdes frei gegenüberzustehen. Bei reaktiven Psychosen beob-
achtet man entweder eine sofortige Reaktion auf ein eingreifendes Erlebnis, oder nach
längerem unbemerkten Reifen, im verständlichen Zusammenhang mit dem Schicksal
und den täglich wiederkehrenden Eindrücken, gleichsam eine Entladung. Es besteht
nach Ablauf der Psychose zwar die Fähigkeit, die Psychose im Urteil rückhaltlos für
krank zu erklären. Es besteht aber die Tendenz einer Nachwirkung der psychotischen
Inhalte, die aus dem Schicksal erwachsen sind, auch auf das weitere Leben und damit
die Neigung, trotz intellektueller richtiger Stellungnahme doch im Gefühls- und Trieb-
leben den krankhaften Inhalten nicht frei gegenüberzustehen.
Von den echten reaktiven Psychosen müssen wir außer den spontanen und ausge-
lösten Psychosen auch die durch seelische Erschütterung, ohne daß ein verständlicher
Zusammenhang besteht, bloß kausal bewirkten abnormen Zustände wohl unterschei-
den, so z.B. die vasomotorischen, neurasthenischen Symptomenkomplexe mit Angst-
zuständen usw. nach Katastrophen. Diese Trennungen sind im Prinzip alle sehr ein-
fach. In der Wirklichkeit bilden die Fälle durchweg Übergänge, Mischungen reaktiver
und spontaner, verständlicher und bloß kausaler Momente. Die schematische Klarheit
der Prinzipien ist uns aber nötig, um konkrete Fälle nicht etwa unter das Schema zu
subsumieren, sondern nach allen Gesichtspunkten zu analysieren. Im Einzelfall kann
z.B. ein dem Wesen nach spontaner Krankheitsschub seine Inhalte gerade aus dem
letzten Erleben nehmen, und man ist nicht imstande, das Reaktive vom Schub zu tren-
nen, wird aber die reaktiven Momente nicht gänzlich leugnen können. -
Verständliche Zusammenhänge, die einzelne Seiten der Psychose bilden, aber nie
das Ganze ausmachen, sind z.B. folgende: Der abnorme Seelenzustand als Ganzes dient
einem gewissen Zweck des Kranken, dem auch die einzelnen Züge der Krankheit mehr
oder weniger adäquat sind. Der Kranke will unzurechnungsfähig sein und bekommt
eine Haftpsychose, er will eine Rente haben und bekommt eine Rentenneurose, er will
in einer Anstalt versorgt sein und hat die mannigfachen Beschwerden der Anstalts-
bummler usw. Diese Kranken erstreben instinktiv eine Erfüllung ihres Wunsches auf
diesem Wege. Die Wunscherfüllung gelingt ihnen durch die Psychose (»Zweckpsycho-

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