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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0445
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

adoptierte er, sie bekam von ihm noch ein Kind. Nach seiner Meinung begannen die Mißhel-
ligkeiten erst 1904, als die Familie nach Mannheim zog. Seine Frau sei 1905 als Putzfrau in ein
Bordell gegangen, dort habe sie alles Schlechte gelernt, habe sich fein gemacht, sei mit Män-
nern gelaufen, habe sich nicht mehr um den Haushalt gekümmert. Daher habe er mit den Kin-
dern allein leben müssen. Er habe auswärts gegessen und natürlich der Frau nicht mehr seinen
Lohn gegeben, die ihrerseits für sich von ihrem Dirnenverdienst lebte. Die Frau stellt die Sache
anders dar. Der Mann habe von ihr verlangt, sie solle sich für Geld den Männern hingeben; sie
könne abends noch mal fortgehen, sie habe gleich 10 Mark verdient. Der Mann habe sie ins Bor-
dell geschickt. Er habe ohne Grund ihr nie mehr den Wochenverdienst gegeben. Daher habe sie
selbst verdienen müssen. Sie sei seit zwei Jahren tatsächlich Prostituierte.
Der Mann hat sich, wie er erzählt, über die Untreue der Frau immer sehr aufgeregt. Sie ver-
sprach ihm z.B. abends mit ihm ins Apollotheater zu gehen. Kam er von der Arbeit nach Hause,
war sie schon mit einem anderen hingegangen. Wenn er sich ärgerte und im Ärger mehr trank,
so waren solche Ereignisse fast immer die Ursache. Die Frau habe ihn völlig vernachlässigt.
Die Frau beklagt sich über Mißhandlungen. So habe der Mann vor 2 Jahren morgens - er kam
vom Weg zur Arbeit wieder zurück - Pfeffer auf ihre Genitalien geworfen, daß sie fast nicht mehr
laufen konnte. Der Mann gibt das zu, verweigerte nähere Auskunft und erklärt empört: hätte
ich Dynamit gehabt, hätte ich Dynamit hineingesteckt.
Beim Geschlechtsverkehr hat die Frau am Mann nichts Abnormes bemerkt. Er war nicht beson-
ders appetent. Zum letzten Male verkehrten sie im April 1912, kurz bevor sie ihn verließ. Über
seine außerehelichen Geschlechtsbeziehungen weiß die Frau nur, daß er einmal vor langen Jah-
ren nach der Heirat den ganzen Zahltag ins Bordell getragen hat. Er gibt das zu, es sei nur ein-
mal vorgekommen. Sonst will der Kranke während der Ehe keine weiteren geschlechtlichen
34/ Beziehungen gehabt haben, zumal in den letzten Jahren habe er sich um kein | Mädchen geküm-
mert. Vor der Ehe hat der Kranke mehrere Verhältnisse gehabt, von denen er mit einem gewis-
sen Stolze erzählt.
Aus dem Verhalten des Kranken geht hervor, daß ihm an seiner Frau ungeheuer viel liegt. Er
denkt kaum etwas anderes, läuft ihr geradezu nach, ist immer bereit, ihr alles zu verzeihen, will
selbst jetzt, »um ihr mit gutem Beispiel voranzugehen«, in eine Trinkerheilanstalt. Nur ganz vor-
übergehend hat er sowohl im Jahre 1911 nach der ersten Psychose wie im Jahre 1912 vor und
nach der zweiten Psychose an Scheidung gedacht. Aber solche Gedanken hat er sofort aufgege-
ben und sich nur bemüht, mit der Frau um jeden Preis wieder zusammenzukommen. »Man hat
nur eine Ehe.«
Die zuletzt angedeutete Stellung des Mannes zu seiner Gattin spielt beim Ausbruch beider
Psychosen eine unzweifelhafte Rolle. Beide Male hat die Frau ihn verlassen - was sonst nicht
vorgekommen ist - beide Male mußte er allein leben und beide Male brach nach dem Verlauf
von einigen Wochen die akute Psychose aus, die das erstemal 2 Tage dauerte, während die völ-
lige Korrektur und Wiederherstellung ca. 3 Wochen in Anspruch nahm; die das zweitemal 7 Tage
dauerte, dann aber sofort in völlige Heilung überging. Wir wenden uns zur ersten Psychose.
Die erste Psychose (Juni 1911)
Die Frau hatte ein Verhältnis mit dem bei der Familie wohnenden Schlafburschen Martin Bauer.
Diesen warf der Mann hinaus. Bauer holte seinen Bruder und beide verprügelten den Klink sehr
energisch mit einem Stück Kabel. Das war Anfang Mai 1911. Mitte Mai, so erzählt der Kranke
weiter, habe die Frau morgens zu ihm gesagt, er solle daheim bleiben. Er sei aber doch zur Ar-
 
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