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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Editor]; Fonfara, Dirk [Editor]; Fuchs, Thomas [Editor]; Halfwassen, Jens [Editor]; Schulz, Reinhard [Editor]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Editor]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Editor]; Schwabe AG [Editor]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

DOI Page / Citation link: 
https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0467
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

wußte, um was es sich handelte, sobald seine Wirtin ihm Tee brachte, der Doktor ihn
in der Wohnung besuchte, er zum Krankenhaus gebracht wurde, als er von Mannheim
nach Heidelberg überführt wurde. Er war sich seiner »Täuschungen«, seiner Krankheit
anfangs oft, später selten bewußt. Während er anfangs entweder in seinen Erlebnissen
oder in der Wirklichkeit lebte, wurde zunehmend die Wirklichkeit in die Erlebnisse mit
hineingezogen und z.B. dieselbe Zelle meist als Schiffskabine, kurze Momente aber auch
als Krankenhauszelle angesehen (doppelte Orientierung).
Die Erlebnisse waren anfangs einzelne Szenen, die sich mit freien Zwischenpausen
folgten. Später wurde das Erleben immer kontinuierlicher, ununterbrochen, »fieber-
haft«. Anfangs kehrte dasselbe Erlebnis nicht zweimal in gleicher Weise wieder. Zuletzt
fanden Wiederholungen in dem schließlich wirren Durcheinander statt.
Anfangs hatte der Kranke lebhafte Angstgefühle, große Furcht vor Verfolgungen,
bald verlor sich dies Gefühl in der Psychose völlig. Er wurde eigentümlich gleichgültig,
ließ alles gehen, sah es sich an, fürchtete sich nicht, war fatalistisch. Dabei fehlte ihm
jede Spur von Aktivität. Er gab sich gänzlich passiv hin, fühlte sich absolut machtlos,
willenlos. Als das Erleben aufhörte, hatte er nur das Gefühl der Erlösung, daß er nun
Ruhe habe.
Wir charakterisieren diesen Typus einer kurz dauernden Psychose zusammenfas-
send: Bei völlig wachem Bewußtsein und erhaltener Orientierungsfähigkeit findet ein aus
einzelnen anfänglichen Szenen, aus Angst, und Verfolgungswahn sich entwickelndes
365 außerordentlich reiches Erleben statt, bei dem | die Angst gänzlich schwindet und einem
Gefühle großer Gleichgültigkeit bei passivem, willenlosem Hingegebensein Platz macht.
Schließlich besteht eine zuverlässige, detaillierte Erinnerung an alle Einzelheiten.
2. Fragen wir nach den Ursachen dieser Psychose, so ist das gleichzeitig die Frage nach
der Diagnose. Im Beginn unserer Exploration glaubten wir nach den anamnestischen
Daten, nach der sinnlichen Anschaulichkeit der Erlebnisse, nach der großen Erschöp-
fung durch die Psychose und dem terminalen Schlaf mit folgender Einsicht, daß es sich
um eine alkoholische Psychose handele. Diese Ansicht mußte aus folgenden Gründen
aufgegeben werden: Der psychologische Typus der Psychose war durchaus kein alkoholi-
scher, die Phantastik der Erlebnisse, deren Zusammenhang, die Fähigkeit zur Orientie-
rung sprachen gegen Delirium. Nur der Beginn mit Angst und Verfolgung bei Orientie-
rung ließ an Alkoholhalluzinose denken, der weitere Verlauf mit Gleichgültigkeit und
Passivität ohne Angst sprach entschieden dagegen. Ferner sprachen die anamnestischen
Daten wohl für Alkoholgenuß, aber nicht für Alkoholismus: Seine Strafen sind keine Stra-
fen für Alkohol- (Gewalt-)delikte, er hatte dauernd ohne Abnahme der Leistungsfähig-
keit gearbeitet, sein Benehmen zu Hause war kein alkoholisches; trotz seiner berechtig-
ten Eifersucht, die ihm so nahe ging, fehlte ganz der Typus des alkoholischen
Eifersuchtswahns. Zeichen von Sucht zum Alkohol konnten nicht nachgewiesen wer-
den, vielmehr wurde eine Abhängigkeit stärkeren Alkoholgenusses von Verstimmungen
über das Verhalten der Frau wahrscheinlich. Schließlich sprach der dauernde Habitus des
 
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