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Jaspers, Karl; Marazia, Chantal [Hrsg.]; Fonfara, Dirk [Hrsg.]; Fuchs, Thomas [Hrsg.]; Halfwassen, Jens [Hrsg.]; Schulz, Reinhard [Hrsg.]; Heidelberger Akademie der Wissenschaften [Hrsg.]; Akademie der Wissenschaften zu Göttingen [Hrsg.]; Schwabe AG [Hrsg.]
Karl Jaspers Gesamtausgabe (Abteilung 1, Band 3): Gesammelte Schriften zur Psychopathologie — Basel: Schwabe Verlag, 2019

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https://doi.org/10.11588/diglit.69896#0478
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Kausale und »verständliche« Zusammenhänge

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Die Lebensgeschichte, vom Kranken selbst erzählt
Als Kind bedeutete ihm die Religionsstunde etwas. Er hatte schon metaphysische Neigungen, ging
zeitweise gern auf den Kirchhof, hatte Neigung zu Todesgedanken. Mit 18 Jahren las er Schopen-
hauer. In den ersten Semestern hörte er Wundt, ohne ihn recht zu verstehen, las Eucken,863 las
Nietzsche. Diese philosophischen Studien trieb er neben seinen juristischen.
Vor 6 fahren reiste er plötzlich im Semester von München nach Hause, um mit den Eltern zu
sprechen; er wollte zur Philosophie umsatteln, hatte einen Widerwillen gegen die Jurisprudenz.
Damals war er »nervös, wie jeder bei einer inneren Umwälzung«. Er empfand sein Tun als erste
eigene Willensäußerung.
Doch gab er nach einiger Zeit die Philosophie auf, wandte sich ernstlich der Jurisprudenz zu,
so daß er genügend lernte, um Examen zu machen, so viel, daß er sogar als sehr guter Jurist in
seinem Bekanntenkreise galt.
Vor 4 fahren fing er wieder mit der Philosophie an, und zwar beschäftigte er sich lange und
ausschließlich mit dem Problem der Beziehung von Leib und Seele. In dieser Frage: Parallelis-
mus oder Wechselwirkung, studierte er: i. Fechner, Spinoza, 2. Busse,864 Rehmke,865 Ebbinghaus,866
Wundt, Petzoldt,867 Avenarius,868 Mach,869 3. Drew,87° Plotin, Plato (Übersetzungbei Diederichs),871
Kierkegaard, Bergson.872 Das Resultat war für ihn, während er ursprünglich zum Parallelismus
geneigt war, daß man beide Theorien mit gleichem Recht vertreten könnte.
Vor 2V2 fahren trat durch Anregung der Studien seines Bruders eine Schwenkung ein. Er stu-
dierte Fries,873 Apelt874 und dann Kant. Es bemächtigte sich seiner zunehmend das Gefühl, daß
seine Begabung auf dem Gebiet der Philosophie liege und er war der Ansicht: »Ich kann keinen
juristischen praktischen Beruf ergreifen, bevor ich mir nicht philosophisch klar bin.«
Vor 1V2 fahren, als er sich als Referendar weiter praktisch ausbilden mußte, konnte er es nicht
mehr aushalten, täuschte auf bewußte Art seine Eltern, die glaubten, er sei als Referendar tätig,
während er nach München reiste und sich ausschließlich der Philosophie zuwandte. Er besuchte
ein philosophisches Seminar, ließ es aber, da der Lehrer zu langsam und zu elementar vorging.
Er blieb allein für sich und arbeitete den ganzen Tag mit ungeheurer Intensität. Dabei hatte er
das Bewußtsein des Schaffenkönnens und Schaffenmüssens: »in 6 Monaten muß ich mein
System haben; sonst eine Kugel vor den Kopf.« Damit wollte er sich dann nachträglich seinen
Eltern gegenüber rechtfertigen und endgültig Philosoph werden. Hauptstudium war ihm
zunächst Kant, dann Husserl, der ihm durch seinen Scharfsinn unendlich imponierte. Rickert875
empfand er als viel weniger scharfsinnig, als breit und geschwätzig, Natorp876 als ganz zurückge-
blieben. Dagegen las er mit Hingabe neben Husserl Teile aus Bergmann,877 Bolzano,878 Brentano.879
Schon nach 4 Monaten erlahmte sein Interesse: bei Husserl, dem Scharfsinnigen, entdeckte
er Widersprüche; er selbst brachte kein System zu Stande. Er war ängstlich, sein Betrug könne
entdeckt werden. Niemand wußte davon, das war ihm selbstverständlich, da er nicht gegen | die
Eltern unwahr sein wollte, während er andern die Wahrheit sagte. Seine Bekannten glaubten
daher alle, er arbeite als Jurist. Nun bemerkte er Anspielungen der Bekannten, die darauf hinzu-
deuten schienen, daß sie von seinem Betrug wußten. Eines Tages wurde das zu einer Szene mit
seinem Freunde, der ahnungslos war und von ihm einen vorwurfsvollen Brief bekam, den er gar
nicht verstehen konnte. Da es nun nach der Ansicht des Kranken »heraus war«, reiste er schleu-
nigst ab, zunächst zu seinem Bruder, um mit dem zu sprechen, wie er mit den Eltern reden sollte.
Der Bruder (Angaben von diesem Bruder) traf ihn tief deprimiert. Er war ȟbertrieben traurig,
hatte Mangel an j eder Initiative, hatte selbst zur Philosophie keine Lust mehr. Er war gänzlich wil-
lenlos, man konnte mit ihm machen, was man wollte. Körperlich verwahrlost war er aber nicht.«

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